Geschichten von der Bibel

Schiff, das der Mann hinter sich herzog, lagen Schriftrollen und Bücher. Die Gelehrten Ägyptens kletterten auf das Schiff, denn das Gerücht war aufgekommen, in den Schriftrollen und Büchern sei die ganze Weisheit der Welt festgehalten. Die Gelehrten blätterten und lasen und soffen sich voll mit der Weisheit der Welt. Ihre Köpfe und Bäuche blähten sich auf, und sie wurden so schwer, daß der Mann sein Schiff nicht mehr ziehen konnte.
    Da habe, träumte Malul, der Mann das Seil zusammengerollt und habe damit die Gelehrten aneinandergebunden und zu einem Bündel verschnürt. Er habe den Mast seines Schiffes abgebrochen und über den Kiel gelegt zu einer Waage. Dann kam ein Lamm des Weges, ein zartes, weißes Wesen. Der Mann aus der Wüste hängte auf die eine Seite der Waage die aufgeblähten Gelehrten Ägyptens und auf die andere Seite das zarte Lamm. Und siehe da, die Weisheit der Welt war leichter als das Lamm.
    Das hat der Pharao geträumt.
    Aber er konnte sich den Traum nicht deuten. Auch die Amme konnte – oder wollte – den Traum nicht deuten. Und seine Minister hatten von dieser Kunst nicht die geringste Ahnung. Da hat Malul den berühmtesten Hellseher seiner Zeit, den Superstar unter den Hellsehern, engagiert, nämlich Bileam ben Beor.
    Bileam ben Beor war ganz aus Gold, und das ist wörtlich zu verstehen. Seine Haare waren nicht etwa nur vergoldet, nein, sie waren aus Gold. Und seine Haut war aus Gold, und seine Knochen waren aus Gold, und seine Zähne, seine Augen, alles aus massivem Gold. Kein Tier konnte ihn tragen, er konnte nicht reiten, natürlich nicht, ein Esel wäre viel zu schwach gewesen, auch ein Kamel wäre viel zu schwach gewesen, ein Pferd wäre viel zu schwach gewesen. Die Leute glaubten nicht, daß es einen Menschen geben kann, der aus purem Gold besteht. Sie schlichen sich von hinten an Bileam ben Beor heran und versuchten, ihn zu berühren. Aber Bileam ben Beor war ein Hellseher.
    Ehe die Hand ihn berührte, drehte er sich um und sagte: »Greif mich nicht an, Mensch! Weißt du denn nicht, daß Gold das gefrorene Feuer der Hölle ist?«
    Es wurde erzählt, Bileam ben Beor sei als Kind in einen Honigtopf gefallen. Die Sonne habe in diesen Honig geschienen und habe das Kind darin zu Gold gemacht, seine Haare, seine Haut, seine Knochen, seine Augen – und auch seinen Verstand. Bileam ben Beor sei erleuchtet worden von der Sonne, ein Stück Sonne sei in seinen Verstand gedrungen und habe seinen Geist vergoldet. Aber seine Seele sei erstickt, und er sei böse geworden. Hieß es.
    Diesen Superstar der Hellseherei holte Pharao Malul zu sich an den Pharaonenhof. Er sollte ihm seinen Traum deuten.
    Bileam ben Beor warf sich nicht nieder vor dem Herrscher der Welt. Er blieb stehen. Das war mehr als regelwidrig. Das war eine Unverschämtheit, und jeder andere wäre dafür bestraft worden. Aber Bileam ben Beor war ein Superstar.
    »Hör zu, Pharao!« begann der Hellseher, noch bevor Malul ein Wort zu ihm gesagt hatte. »Bevor wir beide miteinander Geschäfte machen, will ich dir ein paar Dinge erklären. Erstens: Ich habe mehrere Berufe. Mein erster Beruf ist der eines Schmeichlers. Diesbezüglich bin ich nur einem verpflichtet, nämlich dem Wohlbefinden meines Klienten. Ist das soweit verständlich?«
    Malul ließ sich von dem selbstbewußten Ton einschüchtern.
    »Ja, ich habe es verstanden.«
    »Als Schmeichler«, fuhr Bileam ben Beor fort, »werde ich Dinge über dich sagen, die werden dich sehr froh machen. Du wirst glücklich sein.«
    »Wahre Dinge?« fragte Malul.
    »Eher unwahre Dinge.«
    »Aber ich werde doch nicht mehr daran glauben, wenn du mir das schon vorher sagst.«
    »Oh, doch, du wirst daran glauben«, sagte Bileam ben Beor. »Ich bin ein sehr guter Schmeichler.«
    »Und was ist dein zweiter Beruf?«
    »Mein zweiter Beruf ist der des Hellsehers. Wenn ich gebeten werde, diesen Beruf auszuüben, bin ich ausschließlich der Wahrheit verpflichtet. Und die Wahrheit nimmt keine Rücksicht – auf niemanden. Ist das soweit verständlich?«
    »Mhm«, sagte Malul.
    »Also, was willst du von mir?«
    »Ich möchte wissen, was mein Traum bedeutet.«
    Der Pharao bezahlte das Honorar für Hellseherei – bei Gott, nicht wenig! –, und Bileam ben Beor lieferte seine Arbeit ab.
    »Das Bündel mit den Gelehrten, das auf der einen Seite dieser merkwürdigen Waage hängt«, sagte er, »stellt Ägypten dar. Das zarte, weiße Lamm ist Israel. Israel ist bedeutender als Ägypten. Das sagt dein