Geschichten von der Bibel
war ihr größtes Unglück. So wurde sie Hebamme, weil sie wenigstens am Glück anderer Frauen teilhaben wollte. Aber das Glück der anderen Frauen machte sie nicht glücklicher, sondern nur noch unglücklicher. Denn da war Mißgunst. Die Mißgunst machte, daß, wenn es ein Knabe war, sie nachlässig und lasch ihren Beruf ausübte, daß sie das Neugeborene liegen ließ, daß sie vergaß, das Fenster zu schließen, so daß Zugluft hereinkam, daß sie manchmal stolperte und das Kind zu Boden fiel. Das ist die zweittraurigste Geschichte, die ich kenne«, sagte die Amme.
»Gut«, sagte Malul. »Ruft mir die Hebammen!«
Es waren zwei. Ihre Namen werden in der Bibel genannt: Schifra und Pua.
»Hört zu!« sagte Malul. »Ihr Hebammen! Wenn ihr zu einer israelitischen Frau geht, und es ist ein Knabe, dann sollt ihr euren Beruf nachlässig und lasch ausüben, dann sollt ihr das Neugeborene liegen lassen, dann sollt ihr vergessen, das Fenster zu schließen, so daß Zugluft hereinkommt, dann sollt ihr manchmal stolpern, so daß das Kind zu Boden fällt!«
Schifra und Pua hatten Angst vor dem Pharao, aber sie nahmen ihren Beruf sehr ernst und taten nicht, was der Herrscher Ägyptens von ihnen verlangte.
Nach einer Zeit traten sie vor ihn hin und sagten: »Siehst du, das funktioniert nicht, die Hebräerinnen, die sind wie die Tiere, die bringen ihre Kinder zur Welt, und erst, wenn sie da sind, rufen sie nach uns, und da nützt es nichts mehr, wenn wir unseren Beruf nachlässig und lasch ausüben, wenn wir die Knaben liegen lassen und vergessen, das Fenster zu schließen, so daß Zugluft hereinkommt, oder wenn wir manchmal stolpern und das Kind zu Boden fällt.«
Gott hat Schifra und Pua dafür beschenkt, so steht es in der Bibel: Sie bekamen jede ein Haus.
Und das Volk Israel wuchs und wurde stark und war bald stärker als je zuvor.
Malul rief seine Amme ein drittes Mal zu sich.
»Du hast mir die traurigste und hast mir die zweittraurigste Geschichte erzählt, erzähl mir nun die dritttraurigste Geschichte, die du kennst!«
»Ja, die dritttraurigste Geschichte«, sagte die Amme, »ist die, als ich ein Kind war. Da war eine Feuersbrunst bei uns in der Nachbarschaft. Die Eltern waren bei der Arbeit, und die Kinder waren allein im Haus, als das Feuer ausbrach. Die Kinder sind verbrannt.«
»Diese Geschichte ist doch viel trauriger als die anderen beiden«, sagte Malul. »Warum nennst du sie die dritttraurigste Geschichte?«
»Weil ich sehe, was du aus meinen Geschichten machst«, sagte die Amme. »Und weil ich hoffte, daß es nicht bis ans Ende gebracht wird, habe ich dir die traurigsten Geschichten in verkehrter Reihenfolge erzählt.«
»Gut«, sagte der Pharao und befahl, die Häuser und Hütten der Israeliten anzuzünden.
Aber der Spott jenes ägyptischen Soldaten, der damals dem armen hebräischen Mann den Rat gegeben hatte, der Gott Israels möge doch einen Engel schicken, der auf die Kinder aufpassen soll, dieser zynische Rat war im Himmel durchaus aufgegriffen worden. Gott schickte einen Engel, und der Engel Gottes verwandelte die Kindlein, die in den Wiegen lagen, in kleine pelzige Tiere, und er rollte sie aus ihren Wiegen und grub sie in die Erde ein, und die kühle Erde nahm sie auf und beschützte sie, als oben die Feuersbrunst tobte. Die Erde, das ist bekannt, steht auf der Seite Gottes, und sie machte, daß die Kindlein in ihrem Schoß schneller wuchsen, als sie oben gewachsen wären. Als die Eltern am Abend nach der Arbeit nach Hause kamen und in ihrem Schmerz auf die Knie fielen, da standen vor ihnen plötzlich junge Männer und junge Frauen und erzählten, was geschehen war.
Und das Volk Israel wuchs und wurde stark und war bald stärker als je zuvor.
Malul hatte einen Traum. Er träumte, ein alter Mann komme aus der Wüste, habe ein Seil über der Schulter und ziehe an dem langen Seil ein Schiff hinter sich her. Der Mann zog das Schiff durch den Sand und zog es über die Felder und zog es über die Straßen der Städte. Das war eine unvorstellbare Strapaze. Eine Ader stand dem Mann über den Augen, die teilte seine Stirn in zwei Reiche. Und Malul, der Pharao, sah im Traum die Leute aus ihren Häusern laufen. Und die Leute staunten über die Ader auf seiner Stirn nicht weniger als über das Schiff, das der Mann hinter sich herzog.
Und Malul hörte im Traum einen Israeliten sagen: »Die Ader, das ist das Zeichen des Kain.«
Malul wollte in seinen Traum hineinrufen: Wer ist Kain?
Auf dem
Weitere Kostenlose Bücher