Geschichten von der Bibel
gehen, denn das tut einer nur, wenn er sterben möchte. Also würde ich mich zu ihnen setzen müssen. Und dann hätte ich ihnen ihr Stelldichein verdorben.«
Erst lachten und plauderten die jungen Leute miteinander, dann zog sich das erste Paar zurück, die anderen folgten. Es wurde ruhig. Die Schafe drängten sich im Schatten aneinander. Es war Mittag.
Keine zwei Armeslängen von Moses’ Versteck entfernt hatten sich ein Mann und eine junge Frau in den Schatten des Gebüsches gelegt. Moses sah, der Mann war der stärkste und schönste von allen, und er war wohl auch der reichste, seine Kleidung verriet es, das Tuch in einem wertvollen Rot war mit goldenen Spangen zusammengehalten, die Spange auf der Brust war zudem mit glitzernden Edelsteinen besetzt. Die junge Frau, die sich ausgiebig von ihm küssen ließ und ausgiebig zurückküßte, schob ihn immer wieder von sich weg, um ihn zu betrachten, und Moses hatte den Eindruck, als komme sie aus dem Staunen nicht heraus, als könne sie ihr Glück nicht fassen.
Es rührte ihn, die beiden in der Umarmung zu sehen, denn er dachte an Zippora, und eine große Sehnsucht erfaßte ihn, und er wollte sich die Haare raufen, so ärgerte er sich, daß er sie hatten gehen lassen – sie, die schönste Frau, die er je gesehen hatte.
Und Trauer erfaßte ihn, denn es war sehr unwahrscheinlich, daß er sie je wiedersehen würde, und es war sehr wahrscheinlich, daß sie, die allein und zu Fuß war, in der Wüste sterben würde. Und als er an den Tod dachte, dachte er auch an das Leben, nämlich an sein Leben. Was habe ich aus meinem Leben gemacht, dachte er. Mein Leben war leer. Und ich wußte nicht, daß es leer war.
»Dreißig Jahre habe ich vergeudet. Was für ein Unglück!«
Aber kein noch so dunkler Gedanke konnte im Augenblick sein Herz verdämmern.
Und so dachte er: »Was für ein Glück aber auch, daß ich es nicht gemerkt habe, wie leer diese Jahre waren!«
Voll Rührung betrachtete er das Liebespaar. Als eine Gnade erschien ihm die Liebe. Als die verderblichste Sünde, diese Gnade nicht anzunehmen, und es schien ihm eine große Wahrheit zu sein, daß die Liebe den Menschen gut mache, daß der Liebende nichts Böses tun könne. Er wandte seinen Kopf ab.
»Es gehört sich nicht, zwei Liebende zu beobachten«, murmelte er in seinen Bart.
Der Mensch kann das Auge abwenden, aber nicht das Ohr, und so wurde Moses, ohne es zu wollen, Zeuge des Gespräches, das die beiden führten. Und was Moses da hörte, wischte die große Wahrheit, die ihn gerade noch so tief bewegt hatte, schnell beiseite.
Offensichtlich war die Sache so: Die Mädchen waren die Mägde von Zippora. Sie hatten gemeinsam mit ihrer Herrin die Schafe zum Brunnen treiben wollen, als sie von den jungen Männern angehalten worden waren. Zippora hatte geglaubt, die Männer seien Banditen, die ihnen die Schafe wegnehmen wollten. Zippora kannte keine Furcht, und sie war bereit, ihr Eigentum zu verteidigen, und sie forderte ihre Mägde auf, sich gemeinsam mit ihr zu wehren.
Aber Widerstand war zwecklos, die Männer machten sich einen Spaß daraus, die Frauen vor sich her zu treiben. Es stellte sich auch bald heraus, daß sie es gar nicht auf die Schafe, sondern eben auf die Frauen abgesehen hatten. Es waren keine Räuber – obwohl sie, als sie die Frauen gewonnen hatten, dann auch keinen Grund sahen, auf die Herde zu verzichten.
Ja, sie hatten die Frauen gewonnen. Vielleicht hatten sich die Mägde ja auch aus Angst freiwillig ergeben. Nach allem, was Moses hörte und was er gesehen hatte, zweifelte er allerdings daran. Diese Mägde hatten ihre Herrin im Stich gelassen, hatten sich auf die Seite der Männer geschlagen und Zippora allein und zu Fuß in die Wüste geschickt.
Daß seine Zippora – inzwischen dachte Moses an Zippora als seine Frau –, daß sie auf so niederträchtige Art von ihren Mägden verraten worden war, empörte ihn so sehr, daß er alle Vorsicht vergaß.
Laut sagte er: »Euch wird das Küssen noch vergehen!«
So laut hatte er gesprochen, daß es alle gehört hatten. Die Männer sprangen auf, griffen nach ihren Waffen. Die Frauen warfen die Hände vor den Mund, als Moses sich aus dem Unterholz erhob. Der Zorn des Moses war etwas Gewaltiges! Wer diesen Mann im Zorn sah, der mußte meinen, der Zorn selbst, wie er von Gott gemacht worden war, stehe vor ihm. Und gegen den Zorn, wie ihn Gott gemacht hat, nützt keine Waffe, und es nützen kein Weinen und kein Bitten.
»Ihr«, brüllte Moses
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