Geschichten von der Bibel
angestimmt und Isaak, Jakob und die anderen später übernommen hatten, und wie ein Refrain kehrten in diesem Lied alte Motive immer wieder. An einem Brunnen hatten sich Abraham und Sara den Ehekuß gegeben, an einem Brunnen hatte Eliëser für Isaak, seinen Herrn, um Rebekka gefreit, an einem Brunnen hatte Jakob Rahel zum ersten Mal gesehen – und an einem Brunnen hatten die Söhne Jakobs über ihren Bruder Josef den Stab gebrochen, was zur Folge hatte, daß dieser nach Ägypten verschleppt wurde.
Moses – er war zu jener Zeit schon bald fünfzig Jahre alt – saß also im Schatten des Baumes, lehnte mit dem Rücken am Brunnenschaft, er war müde, die Lider senkten sich über seine Augen, und er meinte, es sei schon das Bild eines Traumes, als er durch die flimmernde Wüste eine Gestalt auf sich zukommen sah.
Es war eine Frau, sie war ganz in schwarze Tücher gehüllt. Sie war allein. Sie ging zu Fuß. Gegen Wüstensonne und Wüstenstaub hatte sie die Augen zusammengekniffen, so daß sie Moses erst wahrnahm, als sie nur noch wenige Schritte vor ihm war.
Sie blieb stehen.
»Ich will Wasser«, rief sie ihm zu. »Sonst will ich nichts. Ich bin allein. Niemand braucht sich vor mir zu fürchten.«
Moses erhob sich und lachte laut heraus.
»Sieh mich an«, sagte er, »du reichst mir gerade bis an die Brust. Warum sollte ich mich vor dir fürchten?«
Er warf den Eimer, der an einem Seil hing, in den Brunnen und zog ihn mit Wasser gefüllt herauf.
»Trink!« sagte er. »Trink, soviel du willst. Niemand wird dich daran hindern.«
Die Frau konnte nicht trinken. Sie war zu schwach, um den Eimer zu halten. Sie wankte. Moses mußte sie stützen, sonst wäre sie gefallen. Er legte sie neben den Brunnen in den Schatten, hob ihren Kopf und gab ihr mit seiner Hand Schluck für Schluck Wasser. Er zog ihr das Tuch vom Kopf, befeuchtete Haare und Stirn.
»Was ist mir dir geschehen?« fragte er. »Kein Mensch geht zu Fuß und allein durch die Wüste. Bist du beraubt worden? Haben dich deine Leute zurückgelassen?«
Die Frau antwortete nicht. Sie war zu schwach dazu. Die Augen fielen ihr zu. Sie schlief ein.
Moses blieb neben ihr sitzen und betrachtete sie.
»Entweder muß ich sehr vertrauenerweckend auf sie wirken«, sagte er zu sich, »oder aber sie ist in ihrer Erschöpfung dem Tod so nahe, daß sie keinen Gedanken an ihre Sicherheit mehr aufbringen kann. Wie auch immer, sie ist jedenfalls an den Richtigen geraten. Auch wenn es sehr unwahrscheinlich ist, daß ihr an diesem einsamen Brunnen eine Gefahr droht, will ich doch so lange bleiben, bis sie erwacht.«
Er schnitt ein Palmenblatt vom Baum, fächelte ihr Luft zu, hielt es über ihre Augen, als die Sonne so tief stand, daß der Baum nur mehr wenig Schatten warf.
Die Frau schlief einen ganzen Tag und eine ganze Nacht. Manchmal sprach sie im Schlaf und verlangte Wasser. Moses gab ihr zu trinken, benetzte wieder ihr Haar und kühlte ihre Stirn. In der Nacht legte er seinen Mantel über sie, und er selbst lief um den Brunnen herum und schlug mit den Armen um sich, damit ihm warm wurde.
Als sie erwachte, sah sie Moses an, und kein Erstaunen war in ihrem Blick. Moses teilte mit ihr das wenige, was er zu essen bei sich hatte. Lange saßen sie schweigend nebeneinander.
»Wer bist du?« fragte er endlich.
»Warum willst du das wissen?« fragte sie dagegen.
»Du hast einen ganzen Tag und eine ganze Nacht geschlafen«, sagte er. »Das ist in der Wüste eine lange Zeit. Ich habe diese Zeit damit zugebracht, dich anzusehen.«
»Und?« fragte sie. »Was hast du gesehen?«
»Deine Wimpern habe ich gesehen, deinen Mund, deine Nase …«
»Jeder Mensch hat Wimpern, Mund und Nase«, sagte sie.
»Das ist schon richtig«, sagte Moses, »aber noch nie in meinem Leben habe ich die Wimpern, den Mund und die Nase eines Menschen so genau betrachtet.«
»Weil du nichts anderes zu tun hattest.«
»Das ist wohl wahr«, sagte Moses.
»Und nun«, sagte sie, »willst du wissen, wie der Mensch heißt, zu dem diese Wimpern, dieser Mund und diese Nase gehören?«
»Ja«, sagte er.
Wieder war es lange still zwischen den beiden.
Dann sprach sie schnell und undeutlich: »Zippora heiße ich. Nun aber will ich gehen, und ich möchte nicht, daß du mir folgst.«
Sie erhob sich, wickelte das schwarze Tuch um ihren Kopf und ging ohne einen Blick auf Moses davon.
»Nein«, rief Moses, »bleib! Du kannst nicht allein durch die Wüste gehen! Laß uns doch zusammen gehen! Ich werde dich nach
Weitere Kostenlose Bücher