Geschichten von der Bibel
Altertums, einen Heroen, der außerhalb der Zeit seine Abenteuer erlebt, dessen Taten chronologisch zu ordnen weder möglich noch sinnvoll ist.
Wenn die Bibel zuwenig erzählt, dann erzählen die Sagen zuviel. Viel zuviel. Wenn einer alles erlebt, erlebt er gar nichts. Wenn einem Menschen alles zuzutrauen ist, ist er kein Mensch mehr, sein Charakter bläht sich ins Unfaßbare, ins Beliebige. Mit den Moses-Sagen verhält es sich ähnlich wie mit den Herakles-Sagen aus der griechischen Mythologie: Der Protagonist wird von der Masse seiner eigenen Heldentaten erdrückt, so daß er am Ende als eine uninteressante Figur übrigbleibt, die lediglich eine Funktion zu erfüllen hat, nämlich Träger von Geschichten zu sein.
Solche alles überragenden mythischen Figuren verdrängten kleinere lokale Helden: Die verschiedenen Regionen wollten ihrer Mythologie mehr Gewicht verleihen, indem sie ihre eigenen Helden aufgaben und deren Taten dem großen Vorbild anhängten. Das ist der Homogenität eines Charakters freilich nicht zuträglich. So tritt Moses in der einen Geschichte als ungeduldiger, cholerischer Anführer einer Armee von Gerechten auf, und in der anderen Geschichte lernen wir ihn als einen sanften, langmütigen Menschen kennen, um den sich Kinder und Tiere scharen. In der einen Geschichte wird Moses Minister und ordnet durch und durch diesseitige Staatshaushalte, in der anderen schweben Engel vom Himmel und füttern den Verhungernden mit nahrhafter Luft. – Es ist, als hätte man völlig unterschiedlichen Figuren einfach den Namen Moses gegeben. Mit dem großen Mann aus der Bibel haben viele dieser Geschichten nichts mehr zu tun.
Sind diese Sagen also wertlos? Weil sie uneinholbar vom Original der Erzählung abweichen? So ein Urteil wäre sinnvoll, wenn man bei einer mythischen Figur überhaupt von einem Original sprechen könnte, einem Original, an dem sich der Wert einer Erzählung messen läßt. Der Historiker kann sehr wohl unterscheiden, was wahr und was falsch ist – jedenfalls geht seine Wissenschaft davon aus. Nachdem es für uns aufgeklärte Menschen jedoch eine Binsenweisheit ist, daß sagenhafte Begebenheiten nicht wirklich, das heißt nicht historisch überprüfbar geschehen sind, sondern höchstens eine innere Wahrheit besitzen – was immer man darunter verstehen mag –, kann der Wert einer sagenhaften Erzählung weder an ihrer Originalität noch an ihrem Alter, noch an der Quelle, der sie entstammt, noch an den Autoritäten, über die sie tradiert wurde, gemessen werden.
Was aber macht dann den Wert, den Gebrauchswert, einer mythischen Geschichte aus? Warum wählt der Erzähler diese Variante und jene nicht, warum zieht er bisweilen eine obskure Quelle einem kanonischen Text vor? Ich kann darauf nur eine subjektive Antwort geben: Im Lauf der Erzählung gewinnt der Held derselben immer mehr an charakterlicher Kontur. Das ist nur scheinbar dem Willen des Erzählers zuzuschreiben. Sozusagen unter der Hand des Erzählers erzählt sich der Held seinen Charakter selbst. Der Erzähler hütet sich davor, allzu heftig einzugreifen. Oft hat ein Held nach solchen Interventionen schon geschwiegen. Also überläßt der Erzähler dem Helden die Zügel und begnügt sich mit einer dienenden Rolle – und wählt unter den vielen Geschichten und Varianten jene aus, die dem Helden auf seinem eingeschlagenen Weg förderlich sind, und schiebt großzügig Legenden, Märchen, Sagen, Anekdoten beiseite, die dem Charakter seines Helden nicht entsprechen – auch wenn damit die eine oder andere Begebenheit, die vielleicht einen »besseren Plot« vorzuweisen hätte, unter den Tisch fällt.
Moses begab sich auf eine lange Wanderschaft. Er wollte nie wieder nach Ägypten zurückkehren. Der Konflikt, der dort das ganze Leben bestimmte, der Konflikt zwischen Juden und Ägyptern, würde ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Er war ein Jude, der als Ägypter aufgewachsen, als Ägypter erzogen worden war. Er trug den Konflikt in sich. Erst unter Menschen, die weder wissen, wer ein Ägypter noch wer ein Jude ist, würde der Riß, der durch seine Seele ging, heilen. So dachte Moses.
Er wanderte durch die Länder, und eines Tages kam er zu einem Brunnen. Er setzte sich in den Schatten eines Baumes und ruhte sich aus. Er schöpfte Wasser und wartete, bis die Mittagshitze vorüber war. Auch wenn Moses damals erst wenig über die Geschichte des jüdischen Volkes wußte, so wurde doch in ihm das Lied weitergesponnen, das Abraham einst
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