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Geschichten von der Bibel

Geschichten von der Bibel

Titel: Geschichten von der Bibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Gott dem Moses, und wieder erschien er ihm in seiner Hütte als ein kaltes, dunkles, rauchloses Feuer.
    »Moses, mein Knecht«, sagte er, »hast du dir dein Volk angesehen?«
    Moses kniete, den Rücken zur Stimme Gottes. Er war müde, und seit dem Sieg über den Pharao war ihm schon manchmal der Gedanke gekommen, ob die Einsamkeit der Leere nicht leichter zu ertragen gewesen wäre als die Einsamkeit des Erfülltseins von Gott.
    »Ja«, sagte er, »ich habe mein Volk angesehen. Ich spreche jeden Tag mit unseren Leuten. Ich sehe sie. Ich höre sie.«
    »Und es stört dich nicht, in welchem Zustand sich dein Volk befindet?«
    »Was meinst du? Daß die Menschen erschöpft sind, daß sie traurig sind, daß viele von ihnen verzweifelt sind, daß sie fast nichts mehr besitzen, daß sie verwundet sind, daß sie in der Nacht von Alpträumen geweckt werden?«
    »Das stört dich nicht?« fragte Gott.
    Moses lachte, und böser Sarkasmus war in diesem Lachen.
    »Ob mich das nicht stört? Freilich wäre es besser, die Menschen wären nicht erschöpft, nicht traurig, nicht verzweifelt, hätten nicht ihren Besitz verloren und ihre Gesundheit, könnten die Nächte durchschlafen.«
    »Der Pharao und sein Volk tragen die Schuld«, sagte Gott.
    Moses schwieg.
    »Gibst du mir nicht recht, Moses?«
    Moses schwieg immer noch.
    »Hältst du mir noch die Treue, Moses?« fragte die Stimme Gottes.
    »Ja«, sagte Moses nach einer Weile.
    Aber erst nach einer Weile.
    »Das war zwar leise gesagt, aber es war gesagt«, sprach Gott. »Ich will nicht, daß mein Volk Ägypten verläßt wie ein Bettler das Haus eines feinen Herrn. Die Männer und Frauen Israels haben Fronarbeit geleistet durch viele, viele Jahre, sie dürfen nicht mit leeren Händen gehen. Geht in die Häuser der Ägypter, nehmt mit, was ihr tragen könnt, Schmuck, Geschirr, die Aussteuer für ihre Töchter, die Ersparnisse für die Söhne! Plündert ihre Speisekammern! Brecht die Kleiderkästen auf! Nehmt, nehmt, nehmt!«
    Da weinte Moses.
    »Du brauchst mir deine Tränen nicht zu erklären«, sagte Gott. »Deine Tränen beleidigen mich! Steh auf! Geh zu deinen Leuten, und sag ihnen, was ich dir gesagt habe! Hüte dich, meinen Zorn auf dich zu ziehen!«
    Da ging Moses zu seinen Leuten und sagte ihnen, was Gott ihm gesagt hatte.
    Und hatte es am Ende der zehn Plagen viele im Volk Israel gegeben, die Mitleid hatten mit den Frauen und Männern Ägyptens, so waren es jetzt nur noch wenige.
    »Gott hat recht«, sagten sie. »Fast dreihundert Jahre lang hat unser Volk Fronarbeit geleistet in Ägypten! Und wenn wir ihnen alles wegnähmen, was sie besitzen, wäre es nicht genug! Gott hat recht. Sein Name sei gepriesen!«
    Man will meinen, die Ägypter hätten sich zur Wehr gesetzt. Man läßt doch nicht einfach einen Menschen in sein Haus und schaut zu, wie er die Vorratskammer plündert, wie er die Kleiderkästen aufbricht, die Aussteuer für die Tochter an sich rafft, die Rücklagen für den Sohn in seine Tasche streicht. Aber die Ägypter wagten es nicht, sich zu wehren.
    So ging das vor sich: Ein Israelit betrat das Haus eines Ägypters und sagte: »Mein Gott hat mich zu euch geschickt, das ist der, der den Pharao besiegt hat, der die neun Plagen gemacht hat. Der auch die zehnte Plage gemacht hat. Er hat zu mir gesagt, ich soll euch besuchen und soll mitnehmen, so viel ich tragen kann.«
    Aber nicht alle Israeliten taten so. Manche Familie besuchte ihre Nachbarn, neben denen sie ein Leben lang gewohnt hatte, und der hebräische Mann umarmte den ägyptischen Mann, und die hebräische Frau umarmte die ägyptische Frau, und Tränen standen in den Augen aller, denn Freunde trennten sich.
    Alles war bereit zum Aufbruch, da kam Mirjam gelaufen, aufgeregt war sie, die weißen Haare flogen ihr um den Kopf.
    »Moses!« rief sie. »Aaron! Der Engel Gottes ist mir in der Nacht erschienen, und er hat mir gesagt, ich soll euch daran erinnern, was dem Josef auf seinem Totenbett versprochen worden war!«
    »Was war denn dem Josef auf dem Totenbett versprochen worden?« fragte Aaron.
    »Das hat der Engel nicht gesagt. Er hat wohl vorausgesetzt, daß ihr das wißt.«
    »Wenn es wichtig wäre«, sagte Moses, »hätte es mir Gott persönlich gesagt und nicht seinen Engel zu dir geschickt.«
    Aber dann war sich Moses auf einmal nicht mehr sicher. Ich war in letzter Zeit unfreundlich zu Gott, dachte er bei sich, und er dachte es leise, sehr leise bei sich. Vielleicht hat er mich verlassen, diesmal für immer

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