Geschichten von der Bibel
müßt dorthin ziehen. Ihr müßt alle zusammen hingehen. Ich habe gehört, man gibt einem Mann nur so viel, wie er allein braucht. Es müssen zehn Männer kommen, wenn man für zehn Männer Essen haben will. Geht hin und kauft Getreide und Hülsenfrüchte. Nur den Benjamin will ich bei mir behalten, denn er ist mein Liebster.«
Dem Benjamin galt Jakobs ganze Liebe. Er hatte seine Frau Rahel verloren, und er hatte seinen Sohn Josef verloren. Jakob war ein alter Mann geworden. Er lebte in der Erinnerung. Und kein Tag war vergangen, an dem er nicht geweint hatte.
Die Brüder rüsteten sich für den Weg nach Ägypten – Ruben, Schimeon, Levi, Jehuda, Isachar, Ascher, Dan, Gad, Naftali und Sebulon.
Jakob gab ihnen noch Maßregeln mit: »Wenn ihr in der Stadt ankommt, benehmt euch unauffällig! Betretet die Stadt durch verschiedene Tore! Laßt euch nicht gemeinsam blicken! Sprecht nicht miteinander, wenn ihr euch zufällig begegnet! Es soll so sein, als ob jeder für sich ist!«
Daran hielten sie sich. Sie waren selbstbewußte Männer. Stolze Nomaden. Aber als sie nach Ägypten kamen, als sie die Hauptstadt betraten, da bekamen sie es mit der Angst.
»Hierher ist vielleicht unser Bruder Josef verkauft worden«, sagten sie sich. In all den Jahren hatten sie dieses Thema gemieden. »Wer weiß, was aus ihm geworden ist.«
Besonders Ruben hatte ein schlechtes Gewissen: »Wer weiß, ob er noch lebt.«
Einzeln meldeten sie sich bei den Beamten des Vizekönigs, gaben an, daß sie Weizen und Hülsenfrüchte kaufen wollten.
Josef sah die Liste, sah die Namen seiner Brüder darauf. Er gab Befehl, sie zu verhaften. Alle zehn. Man traf sie im Hurenviertel der Stadt. Nicht weil sie zu den Prostituierten gehen wollten, waren sie dort.
Vielmehr hatten sie sich gesagt: »Was hat man mit dem Josef anfangen können? Arbeiten konnte er ja nicht. Er hatte ein schönes Gesicht, man wird ihn als männliche Prostituierte verkauft haben.«
Und obwohl sie ihrem Vater versprochen hatten, in der Stadt unter gar keinen Umständen etwas gemeinsam zu unternehmen, hatten sie sich doch ins Hurenviertel geschlichen, weil sie dachten, vielleicht finden wir eine Spur unseres Bruders.
Sie wurden verhaftet und dem Vizekönig vorgeführt.
Der Vizekönig war ein eigenartiger Mann. Er trug einen Schleier. Die Wachsoldaten sagten, noch nie habe ihn jemand ohne diesen Schleier gesehen. Man vermute, hieß es, der Mann habe ein besonders häßliches Gesicht.
Josef ließ die Brüder vorführen. Einem nach dem anderen blickte er in die Augen. Er redete kein Wort mit ihnen.
Mit seinem Dolmetscher flüsterte er: »Übersetze meine Fragen! Aber sei grob dabei! Brüll sie an! Ich wünsche mir, daß sie vor Angst zittern.«
Josef ließ fragen: »Was wollt ihr hier?«
Sie antworteten: »Wir wollen Getreide kaufen und Hülsenfrüchte, wie jetzt alle nach Ägypten kommen, um Getreide und Hülsenfrüchte zu kaufen.«
»Und das wolltet ihr im Hurenviertel kaufen?«
»Nein.«
»Was wolltet ihr dann im Hurenviertel?«
»Wir haben eine Ware verloren und dachten, dort sei sie.«
»Ach so! Eine Ware habt ihr verloren! Was für Ware denn? Was für eine Ware kann das sein? Was für eine Ware sucht man im Hurenviertel? Die einzigen Waren, die es dort zu kaufen gibt, sind Menschen, schöne Frauen, schöne Männer.«
Die Brüder gerieten in Verlegenheit und schauten einander an.
»Ich weiß, was ihr seid!« sagte Josef in der Sprache Ägyptens, und sein Dolmetscher übersetzte es. »Ihr seid Spione! Ihr seid gekommen, um unserem Reich etwas Böses anzutun.«
Er ließ sie gar nicht darauf antworten, er nahm seinen Divinationsbecher und sagte: »Ich werde euch genau sagen, wer ihr seid!«
Ein Divinationsbecher ist ein Gefäß, auf dessen Grund das Bild eines Gottes ist. Wenn man ihn mit Wasser füllt und ein paar Salzkörner hineinfallen läßt, dann kräuselt sich das Wasser, und das sieht so aus, als ob dieser Gott sein Gesicht verziehen würde. Daraus haben Hellseher in Ägypten ihre Wahrheiten bezogen.
Josef nahm also einen solchen Becher, stellte ihn vor sich auf den Tisch und ließ ein paar Salzkörner hineinfallen.
Dann sagte er: »Ich sehe hier zwei von euch«, und er zeigte auf Schimeon und Levi, »die haben vor vielen Jahren in einer Stadt ein grausames Massaker angerichtet. Es war eine friedliche Stadt. Ihr seid keine Gerechten.«
Die Brüder waren entsetzt. Sie wußten, dieser verschieierte Mann hat recht. Es war das Massaker in Schechem, von dem
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