Geschlossene Gesellschaft
Straße. »Wer ist da?« rief jemand. »Halt, sage ich!« Es war Vita, nicht Diana. Ihre Stimme überschlug sich, als sie den Befehl hinausschrie. Aber niemand achtete darauf.
Furcht überströmte mich. Was, zum Teufel, war da los? Ich rannte los, leuchtete dabei mit der Taschenlampe auf den Boden vor mir, um zu vermeiden, dass ich stolperte, und kam wieder auf den Hauptweg. Wer dort auch entlang gerannt war, jetzt war er außer Hörweite. Aber wo war Vita? Was machte sie hier im Wald? »O nein!« schrie es hinter mir. Diesmal war es ohne Zweifel Dianas Stimme. »O mein Gott, nein!« Dann herrschte Stille. Ich zögerte einen Moment, aber der Ruf nach Hilfe in ihrer Stimme war unwiderstehlich. Ich lief den Weg entlang und blinkte in Abständen mit der Taschenlampe. Nach wenigen Augenblicken erreichte ich den Zauntritt und kletterte hinüber. Der Strahl einer Taschenlampe leuchtete vor mir.
»Hallo? Sind Sie das, Diana?«
»Guy?« Ich konnte sie nicht sehen, schätzte aber, dass sie ungefähr zwanzig Meter entfernt war.
»Ja, ich bin es.«
»Wo sind Sie?«
»Hier.«
Ich umrundete eine Kurve und fand sie. Vita stand direkt vor mir. Sie trug einen formlosen Filzhut, einen langen Regenmantel und Wellingtonstiefel. Sie leuchtete mit der Taschenlampe neben den Pfad, dorthin, wo Diana kniete. Sie trug keinen Hut, war aber sonst ähnlich wie Vita gekleidet. Vor ihr lag auf dem Rücken zwischen den Farnen eine Gestalt in einem dunklen Mantel, Tweedhose und derben Schuhen. Die Schuhsohlen waren schlammig, der obere Teil aber glänzte im Licht der Lampe frisch poliert. Von meinem Standort aus konnte ich nicht sehen, wer es war. Der Kopf war seltsam dunkel, was ich zunächst nicht verstand. Ich trat näher. Und dann sah ich es. Es war Charnwood. Die ganze rechte Seite seines Kopfes war zu einem blutigen Krater aus Knochen und Hirnmasse zerschmettert.
»Mein Gott«, sagte ich und trat unwillkürlich zurück.
»Papa«, murmelte Diana und streichelte sein Kinn. »Armer alter Papa.«
»Was machen Sie hier, Mr. Horton?« verlangte Vita grimmig zu wissen.
»Ich war bei... Das ist...«
Diana schaute zu mir hoch. »Sie waren bei Max, nicht wahr?«
»Ja. Aber...«
»Wo ist er?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wir haben jemanden weglaufen gehört. War das Max?«
»Schon möglich. Ich...« Ich hörte es im selben Moment wie sie. Ein Wagen wurde angelassen und fuhr schnell die Dorking Road entlang. Das Geräusch des Motors drang deutlich durch die Bäume. Es war der Talbot. Der Klang seines Motors war mir so vertraut, dass ich ihn nicht verwechseln konnte. »Ich verstehe das nicht«, sagte ich. »Es ergibt keinen Sinn.«
»Mein Bruder ist ermordet worden«, stellte Vita fest. »Er ist hierhergekommen, um sich mit Ihrem Freund zu treffen, nachdem die irregeleitete Diana ihren Plan zur Flucht bereut hat.« Diana begann zu schluchzen, langsam und unaufhörlich, aber Vita achtete nicht darauf. »Als er nicht zurückkam, haben wir nach ihm gesucht. Und das haben wir gefunden: meinen Bruder, zu Tode geprügelt.«
»Sie meinen doch wohl nicht...«
»Ihr Freund ist geflohen, Mr. Horton. Er ist vom Schauplatz seines Verbrechens geflüchtet.«
»Nein. Max würde niemanden ermorden.«
»In einem Wutanfall, als er erkannte, dass er seinen Willen nicht bekommen würde...« »Nein, verdammt noch mal! Nein! Da muss ein Irrtum vorliegen !«
»Ich wünschte, es wäre einer, Guy«, murmelte Diana in die Stille. »Ich wünsche es von ganzem Herzen.«
Ich kniete mich neben sie und riss meinen Blick von dem da-hingestreckten Körper los, dem blutbespritzten Mantel, dem blutigen Rest eines Gesichts und der scheußlich klaffenden Wunde. »Sie können nicht hier bleiben«, sagte ich. »Sie sollten wieder zum Haus zurückgehen.« Ich nahm sanft ihre Hand.
»Ja. Natürlich.« Sie ließ sich von mir hochziehen. »Zurück ins Haus. Aber Papa...«
»Sie können ihm jetzt nicht mehr helfen.«
»Mr. Horton hat recht«, sagte Vita. »Lass dich von ihm zurückbegleiten. Ich werde hier warten... bei Fabian.«
»Es wäre vielleicht besser, wenn Sie Diana begleiteten, Miss Charnwood. Das hier ist... kein Ort für eine Lady.«
»Er ist mein Bruder«, entgegnete sie und reckte beschützend das Kinn vor. »Ich werde ihn nicht allein lassen.«
Protest schien nutzlos. »Gut«, gab ich nach.
»Rufen Sie die Polizei, sobald Sie ins Haus kommen.«
Aus Loyalität zu Max wollte ich widersprechen. Doch was hätte ich schon einwenden können, wenn der Beweis
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