Geschlossene Gesellschaft
seiner Schuld so stark und unwiderlegbar war? Ich fragte bereits nicht mehr, ob er Charnwood getötet hatte, sondern grübelte darüber nach, warum. Aber das wusste ich. Wir alle wussten es.
»Es darf keine Verzögerung geben«, sagte Vita nachdrücklich. »Ich will, dass er gefunden wird.«
Diana und ich sprachen kein Wort miteinander, als wir aus dem Wald über die Wiese zum Gartentor gingen. Sie stützte sich schwer auf meinen Arm und atmete tief durch, um die Tränen zurückzuhalten. Mir fielen weder tröstende Worte noch eine Erklärung oder eine Entschuldigung ein. Mit jeder zusätzlichen Erkenntnis wurde das Ereignis schlimmer. Es muss einen Streit gegeben haben, dachte ich, einen, der eine friedliche Lösung ausschloss. Vielleicht hatte Charnwood Max mit seiner Arroganz oder gar Verachtung aufgebracht. Vielleicht hatte Max zufällig allzu schnell eine Waffe bei der Hand gehabt: einen schweren Stein, ein Stück Holz, vielleicht sogar die Taschenlampe. Welche Waffe es auch gewesen war, sie war in einem rasenden Anfall mörderischer Gewalt benutzt worden, für die ich in gewisser Weise verantwortlich war. Jetzt konnte ich nichts mehr daran ändern oder es gar abwenden. Die Handlung war nicht wiedergutzumachen. Ein Mensch war tot. Und ein Dutzend anderer mussten jetzt mit den Konsequenzen leben.
Wir näherten uns dem Amber Court, den ich nur als zufälliges Muster beleuchteter Fenster gegen eine dunkle Masse von Schornsteinen und Giebeln wahrnahm. Wir betraten das Haus durch die Haustür, die unter einer hohen steinernen Veranda lag. In der holzverkleideten Eingangshalle hatte sich Diana wieder gefasst und alarmierte die im Haus lebende Dienerschaft: den Koch, zwei Dienstmädchen und den Chauffeur. Nach ein paar Minuten kehrte sie zurück, führte mich ins Wohnzimmer und rief dann sofort die Polizei an. Es gab zufällig ein Problem mit der Leitung, so dass sie schreien musste, um sich verständlich zu machen. Ihre Worte ballten im Zimmer wider. »Mein Vater ist ermordet worden. Bitte kommen Sie sofort.« Mein Blick richtete sich auf ein Porträt über dem Kamin, das eine elegante, dunkelhaarige Frau in einem cremefarbenen Kleid im Stil des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zeigte. Ihre Augen waren die von Diana, nur in einem anderen Gesicht.
»Meine Mutter«, sagte Diana ruhig und schaute mich an, während sie den Hörer auflegte. »Vor dreißig Jahren gemalt.« Ein Schauer überlief sie, während sie sprach. Sie schlang die Arme um sich und schloss die Augen.
»Sie sollten einen Schluck Brandy trinken. Ich werde Ihnen ein Glas einschenken.«
»Ich möchte keinen.« Aber nachdem sie sich auf das Sofa neben dem Kamin gesetzt hatte, akzeptierte sie ihn mit zitternder Hand. »Danke«, murmelte sie.
»Nippen Sie nur daran«, warnte ich sie und setzte mich neben sie auf das Sofa. »Er wird... den Schock mildern.«
»Nichts kann das bewirken.«
»Nein, natürlich nicht. Aber... Was genau ist eigentlich passiert?« Ich musste es erfahren, musste herausfinden, was sie und, noch wichtiger, wie viel sie eigentlich wusste. »Warum haben Sie sich entschieden, nicht durchzubrennen?«
Sie schaute mich an, und einen Augenblick glaubte ich, sie würde mir die Antwort ins Gesicht schleudern. Doch dann schüttelte sie nur traurig den Kopf. »Papa hat herausgefunden, was wir vorhatten. Er hat mich sofort nach dem Abendessen zur Rede gestellt und...«
»Beim Dinner gestern Abend?«
»Ja. Er hat mich in sein Arbeitszimmer gerufen und mir gesagt, dass er von der geplanten Hochzeit wüsste. Er wollte nicht sagen, wie er es herausgefunden hatte. Vielleicht hat er unsere Absicht einfach nur erraten und alle Standesämter von hier bis London überprüft, bis er das richtige gefunden hat. Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr, oder?«
Ich zögerte einen Moment. »Vermutlich nicht«, antwortete ich dann.
»Ich habe es zugegeben. Alles. Was hätte ich sonst tun können? Zunächst war ich wütend - wütend darüber, dass er mir nachspioniert hatte. Wir hatten einen furchtbaren Streit.« Sie legte die Hand gegen die Stirn, offensichtlich von der Erinnerung gepeinigt. »Aber als ich sah, wie enttäuscht er von mir war, wie tief es ihn getroffen hatte, dass ich mich mitten in der Nacht hatte fortstehlen wollen, wurde mir klar, dass ich es einfach nicht tun konnte. Nicht, wo Mama tot war und er keinen Sohn und keine andere Tochter hatte, in die er sein Vertrauen setzen konnte.« Sie schluckte schwer. »Max hatte von mir verlangt,
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