Geschmacksverwirrung - Angermüllers siebter Fall
die Mahlzeiten, vor allem die sonntäglichen Mittagessen. Oft hat er dazu irgendwelche Leute eingeladen, die er für wichtig hielt. Da hat er immer selbst gekocht, wollte Eindruck schinden mit seiner üppigen Tafel. Fettige Suppe, schwere Braten, riesige Fleischberge. Ich hab sowieso nie viel gegessen als Kind, und auch nicht gern. Fleisch oder Fisch mochte ich schon gar nicht. Er hat’s mir aufgezwungen. Er ließ nicht eher locker, bis ich meinen Teller leer gegessen hatte. Unter seiner Aufsicht musste ich die Brocken hinunterwürgen. Es scheint ihm richtig Spaß gemacht zu haben, je mehr ich jammerte und heulte.«
Sein Erzählfluss stockte für einen Moment.
»Hinterher bin ich ins Badezimmer gerannt und hab alles wieder ausgekotzt. Das wusste er natürlich, aber das war ihm egal. Wenn seine Show vorüber war, dann war ich ihm sowieso egal und interessierte ihn nicht mehr.«
»Und Ihre Mutter? Hat die das alles so einfach geschehen lassen?«
»Meine Mutter hat mich als Kind eigentlich sehr verwöhnt, und natürlich hat sie mich dann immer getröstet, aber nie hat sie meinen sogenannten Stiefvater an seinen Spielchen gehindert. Das ist das Einzige, was ich meiner Mama noch heute vorwerfen muss: Dass sie nie gewagt hat, gegen seinen menschenverachtenden Umgang mit mir, einem wehrlosen, kleinen Jungen, zu protestieren.«
»Aber warum hat sie …«, setzte Angermüller an.
»Ich weiß es nicht. Manchmal glaub ich, das Leben an sich ist einfach zu viel für Mama. Sie ist eine sehr liebe, aber auch sehr schwache Person. Sie hat null Selbstbewusstsein, überhaupt keine Durchsetzungskraft, hat immer nur nach jemandem gesucht, dem sie sich anschließen kann, der die Führung übernimmt. Aber warum sie ausgerechnet diesen Typ geheiratet hat?«
Er schüttelte ratlos den Kopf.
»Oh Mann, wie oft ich darüber schon nachgedacht habe! Ich hab keine Ahnung. Ich weiß nicht, was sie an Hagebusch gefunden hat. Ich werde es wohl nie herausfinden. Sie mag darüber nicht reden. Vielleicht weiß sie es ja selbst nicht. Sie hat schon immer verdrängt, was sie nicht wahrhaben wollte, und Sie haben ja gesehen, sein Tod scheint ihr unglaublich nahe zu gehen. Ich find das einfach irre«, Calese sah aufgewühlt zu den Beamten. »Vielleicht ist es das ja sogar. Für manches reicht dein Verstand halt nicht aus, um es zu erklären.«
Für einen Augenblick wurde es still im Raum, draußen senkte sich die Dämmerung über die See. Die Tür vom Nebenzimmer wurde leise geöffnet.
»Mama, geht’s dir schon besser?«
Sofort war der Junge neben ihr. Dagmar Hagebusch nickte. Mit einem schüchternen Lächeln setzte sie sich mit ihrem Sohn auf das Sofa. Schmal und zerbrechlich, fast durchsichtig wirkte sie. Es war nicht auszumachen, ob sie von Lorenzos Schilderungen aus seiner Kindheit etwas mitbekommen hatte.
»Victor muss ja bestattet werden«, sagte sie plötzlich und schaute ihren Sohn an. »Er wollte doch immer hier auf dem Friedhof liegen.«
Lorenzo Caleses Gesichtsausdruck schwankte zwischen Verblüffung und Resignation.
»Frau Hagebusch, erlauben Sie mir bitte eine Frage«, versuchte es Angermüller noch einmal freundlich. »Hatten Sie denn in letzter Zeit Kontakt zu Ihrem Mann?«
»Victor ist schon lange nicht mehr hier gewesen«, erklärte sie. »Mein Mann war ja immer sehr beschäftigt. Er arbeitete doch als Journalist.«
Der Sohn ließ einen Moment die Schultern hängen und bedachte die Beamten mit einem deprimierten Blick. Dann straffte er sich wieder.
»Ich muss wohl doch noch ein bisschen bei dir bleiben, was Mama?«, fragte er sanft die Frau neben sich.
»Ach ja, bleib doch noch! Das wäre schön«, freute sie sich und lehnte sich an ihn. »Ist ja so weit nach Italien.«
»Sie leben in Italien?«, fragte Angermüller den jungen Mann.
»Ja, in der Nähe von Cecina. Mein Vater stammte von dort.«
»Und was machen Sie beruflich, wenn ich fragen darf?«
»So alles Mögliche. Im Moment versuche ich, mich als Webdesigner selbstständig zu machen.«
»Lorenzo ist ein begabter Junge!«, erklärte die Mutter stolz. »Kunst und Design lagen ihm schon immer.«
Angermüller nickte.
»Wann haben Sie denn Ihren Stiefvater das letzte Mal gesehen?«
Etwas verwundert blickte Lorenzo Calese zum Kommissar.
»Also, das ist ewig her, daran kann ich mich jetzt wirklich nicht mehr erinnern.«
»Sagen Sie uns beide bitte noch, wie Sie den gestrigen Abend verbracht haben?«
Irritiert hob Dagmar Hagebusch den Kopf.
»Warum wollen Sie
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