Geschmacksverwirrung - Angermüllers siebter Fall
geworden, bemerkte Angermüller im Rückspiegel. Schwarze Rabenvögel, aufgescheucht von dem Lübecker Dienstwagen als einem der seltenen Fahrzeuge auf der Strecke, erhoben sich mit trägen Flügelschlägen vom Straßenrand und flohen weit hinaus auf die kahlen Felder.
»Wieso biegst du hier ab? Das Navi möchte weiter auf der Hauptstraße fahren.«
»Vertrau mir, Kollege. Ich kenn die Gegend ganz gut. Is ne Abkürzung. Kannte hier mal jemanden.«
Was das bei Jansen bedeutete, wusste Angermüller. Der Kommissar, Anfang 30, fast zehn Jahre jünger als er selbst, hatte bis vor Kurzem ein recht abwechslungsreiches Beziehungsleben gehabt, wodurch ihm so einige Orte rund um die Lübecker Bucht wohl vertraut waren. Über einen unbefestigten Schotterweg gelangten sie schließlich in eine kleine Straße, die parallel am Wasser entlang führte, wo einzelne Häuser in erster Reihe direkt am Ostseestrand standen.
»Hier sind wir richtig.«
Zwischen den bebauten Grundstücken gaben winterlich kahle Büsche den Blick auf das Wasser frei, wo sich weit draußen ein paar Sonnenstrahlen durch die Wolkenschicht gekämpft hatten. Jansen hielt vor einem der Häuser, und die beiden Kommissare gingen durch den Vorgarten auf die Eingangstür zu. Angermüller betätigte den Klingelknopf. Die Wartenden hörten einen Gong durch den schmucklosen Flachbau tönen, und gleich darauf näherte sich hinter einer Glastür die Silhouette eines Menschen.
»Ja bitte?«
Eine leise Stimme. Ansonsten alles grau und unauffällig. Die Haare, die Strickjacke, selbst die Augen in ihrem blassen Gesicht waren grau. Das Gesicht einer alten Frau. Sie hatte die Tür nur ein Stück weit geöffnet und hielt sie mit beiden Händen fest.
»Frau Hagebusch? Dagmar Hagebusch?«
Sie nickte. Angermüller stellte sich und Jansen vor und fügte den üblichen Satz von der traurigen Nachricht an. Ängstlich sah ihn die Frau an.
»Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann, Victor Hagebusch, heute Morgen tot in seiner Wohnung aufgefunden wurde.«
»Oh Gott!«
Weiter sagte sie nichts. Ihre Hände schienen an der geöffneten Tür nach Halt zu suchen. Sie blieb regungslos auf der Schwelle stehen und starrte die Polizisten an. Als Angermüller, der fürchtete, sie könne vielleicht ohnmächtig werden, höflich fragte, ob sie kurz hereinkommen dürften, gab sie ohne ein Wort die Tür frei und wies dann geradeaus in den lichten Raum, der sich direkt an den Flur anschloss. Es war wohl das Wohnzimmer, wenig phantasievoll, aber gemütlich eingerichtet, mit handgewebten Teppichen und einer Möbelmischung aus Alt und Neu. Zwei Sofas standen sich vor dem großen Fenster gegenüber, das einen weiten Blick auf Garten, Strand und Meer freigab. Von dem einen Sofa sprang ein junger Mann hoch, sobald sie ins Zimmer kamen.
»Mama, was ist los? Geht’s dir nicht gut?«
Besorgt sah er sie an und legte der Frau eine Hand auf den Arm.
»Das ist die Polizei. Victor ist tot.«
»Oh Mama!«
Er schloss sie in seine Arme. Beruhigend strich er ihr über den Rücken und führte sie zu einem Stuhl.
»Komm, setz dich doch.«
Sie nahm Platz und starrte auf den Boden, tief atmend, offensichtlich bemüht, sich wieder zu fassen.
»Frau Hagebusch, wir haben nur ein paar kurze Fragen an Sie«, begann Angermüller, nachdem Jansen ihre Personalien notiert hatte, wobei der Kommissar mit Erstaunen zur Kenntnis nahm, dass die Frau zehn Jahre jünger als Victor Hagebusch war.
»Meinen Sie, das wäre vielleicht möglich?«
Sie nickte. Ihre Hände, die sie unablässig knetete, zitterten merklich.
»Ihr Mann lebte ständig in seiner Wohnung in Lübeck?«
Ganz leise bejahte Dagmar Hagebusch und sah nicht auf dabei.
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
Ein ratloses Kopfschütteln.
»Es reicht, wenn Sie uns sagen, wie lange das ungefähr her ist?«
Als sie einfach nur schwieg, schwante Angermüller, dass sie hier wohl nicht viel würden ausrichten können.
»Können Sie vielleicht Angaben zu seinem Privatleben, seinem Bekanntenkreis machen? Ob es Menschen gab, zu denen er regelmäßig Kontakt hatte, über seine Journalistentätigkeit hinaus?«
Ganz leise begann sie zu schluchzen.
»Möchtest du dich gern hinlegen, Mama? Was meinst du?«
Der junge Mann war neben sie getreten und streichelte ihre Schulter. Ohne zu antworten erhob sich Dagmar Hagebusch. Liebevoll nahm er ihren Arm, kümmerte sich um sie, ohne von den beiden Beamten Notiz zu nehmen, die etwas verloren daneben
Weitere Kostenlose Bücher