Geschöpfe der Nacht
offen halten sollten, und dem Gebrauch von Klebeband, mit dem sie die Haut bis zum Rand des Schnitts abdeckten, wagten sie es, mich aufzuschneiden. Meine Eingeweide vertrugen soviel Licht, wie die Ärzte hineinleiten wollten – aber als sie soweit waren, war mein Blinddarm geplatzt. Trotz einer sorgfältigen Säuberung kam es zu einer Bauchfellentzündung; ein Abszeß entwickelte sich, dem schnell ein bakterieller Schock folgte, der zwei Tage später eine weitere Operation erforderlich machte.
Nachdem ich mich von dem bakteriellen Schock erholt hatte und nicht mehr in unmittelbarer Lebensgefahr schwebte, verbrachte ich mehrere Monate in der Erwartung, daß das, was ich durchgemacht hatte, eines der neurologischen Probleme auslösen würde, die mit XP zusammenhängen. Normalerweise entwickelt solch ein Zustand sich nach einer Verbrennung, oder nachdem man langfristig und kumulativ Licht ausgesetzt gewesen war – oder auch aus Gründen, die niemand versteht –, doch manchmal entsteht er offensichtlich auch durch ein schweres körperliches Trauma oder einen Schock. Zittern des Kopfes oder der Hände. Gehörverlust. Undeutliche Aussprache. Sogar geistige Behinderungen. Ich wartete auf die ersten Anzeichen einer progressiven, irreversiblen neurologischen Funktionsstörung – aber sie kamen nie.
Der große Dichter William Dean Howells hat einmal geschrieben, daß der Tod auf dem Grund einer jeden Tasse wartet. Aber in meiner ist noch etwas süßer Tee.
Und Apricot Brandy.
»Ich wollte immer nur Krankenschwester sein«, sagte Angela, nachdem sie einen weiteren großen Schluck aus ihrem Likörglas genommen hatte, »doch sieh mich jetzt an.«
Sie wollte, daß ich fragte, also fragte ich: »Was meinen Sie damit?«
»Der Beruf des Krankenpflegers hat mit dem Leben zu tun«, sagte sie, während sie durch gekrümmtes rubinrotes Glas flüchtige Flammen betrachtete. »Ich beschäftige mich jetzt mit dem Tod.«
Ich wußte nicht, was sie meinte, aber ich wartete.
»Ich habe schreckliche Dinge getan«, sagte sie.
»Das haben Sie bestimmt nicht.«
»Ich habe gesehen, wie andere schreckliche Dinge tun, und ich habe nicht versucht, sie aufzuhalten. Die Schuld bleibt gleich.«
»Hätten Sie sie aufhalten können, wenn Sie es versucht hätten?«
Darüber dachte sie eine Weile nach. »Nein«, sagte sie schließlich, sah aber nicht erleichterter aus.
»Niemand kann die ganze Last der Welt auf den Schultern tragen.«
»Einige von uns sollten es lieber versuchen«, sagte sie.
Ich ließ ihr Zeit. Der Brandy war gut.
»Wenn ich es dir sagen will, dann muß es jetzt sein. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich bin im Werden.«
»Im Werden?«
»Ich spüre es. Ich weiß nicht, wer ich in einem Monat sein werde, oder in einem halben Jahr. Eine Person, die ich nicht gern sein möchte. Die mir angst macht.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich weiß.«
»Kann ich irgendwie helfen?« fragte ich.
»Niemand kann helfen. Du nicht. Ich nicht. Gott nicht.« Nachdem sie den Blick von den Votivkerzen zur goldenen Flüssigkeit in ihrem Glas gewandt hatte, fuhr sie leiser, aber genauso bestimmt fort: »Wir vermasseln es, Chris, wie wir es immer tun, aber die Sache hier ist größer als alles, was wir je zuvor vermasselt haben. Wegen Stolz, Arroganz, Neid… wir verlieren es, alles. O Gott, wir verlieren es, und für eine Umkehr ist es schon zu spät. Wir können nicht ungeschehen machen, was geschehen ist.«
Obwohl sie nicht lallte, vermutete ich, daß sie zuvor mehr als nur ein Glas Apricot Brandy getrunken hatte. Ich versuchte, Trost in dem Gedanken zu finden, daß der Alkohol sie zu Übertreibungen verleitete und die bevorstehende Katastrophe, die sie kommen sah, kein Wirbelsturm war, sondern nur eine Bö, die von einem leichten Rausch verstärkt wurde.
Trotzdem war es ihr gelungen, der Wärme der Küche und des Likörs entgegenzuwirken. Ich hatte nicht mehr vor, die Jacke abzulegen.
»Ich kann sie nicht aufhalten«, sagte sie. »Aber ich kann damit aufhören, ihre Geheimnisse zu bewahren. Du verdienst es zu erfahren, was mit deiner Mutter und deinem Dad passiert ist, Chris – selbst wenn dieses Wissen mit Schmerz verbunden ist. Dein Leben war schwer genug, ziemlich schwer, auch ohne alles andere.«
Eigentlich glaubte ich nicht, daß mein Leben besonders schwer war. Es war anders. Hätte ich gegen diesen Unterschied gewütet und meine Nächte damit verbracht, mich nach sogenannter Normalität zu sehnen, hätte ich mein Leben sicher
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