Geschöpfe der Nacht
kalt.
Er ging an ihr vorbei und stieg in den Fond der Limousine. Nach sekundenlangem Zögern folgte sie ihm und setzte sich an seine Seite. Sie sprach zur Glasscheibe, die sie vom Fahrer trennte, und der Geheimdienstmann stieg vorn zu. Die Stabilisatoren summten, als das Fahrzeug sich hob und auf seinen zwei Rädern – eins vorn und eins hinten – balancierte, um über die Betonfläche zu rollen.
»Wann werden wir den Ort erreichen, wo ich die zwei anderen Herren treffen werde?« fragte Rafe.
»Warum sollten Sie das wissen müssen?« Ihre Stimme war mißtrauisch, fast feindselig.
»Weil«, sagte er geduldig, während er ihr voll ins Gesicht blickte, »die Zeit in der gegenwärtigen Situation von größter Wichtigkeit sein kann.«
Er wandte seine Augen nicht von ihr ab. Nach langen Sekunden blickte sie weg.
»In etwa einer halben Stunde«, sagte sie. »Sie sind in der Nähe von Seattle.«
Darauf lehnte sie sich zurück und blickte starr geradeaus. Trotz der Unfreundlichkeit ihres Ausdrucks hatte sie ein hübsches Gesicht, abgesehen von den dunklen Ringen unter ihren Augen. Wieder hatte er das Empfinden, Zeuge stummen Leidens zu sein.
Wahrscheinlich träumte sie zuviel, dachte Rafe. Heutzutage träumten die meisten Menschen auf der Erde mehr als ihnen lieb war.
2
Während der halbstündigen Fahrt sprachen sie nur noch einmal.
»Sie kennen mich offenbar«, sagte Rafe freundlich, nachdem sie Armstrong Field hinter sich gelassen hatten und mit zweihundertachtzig Stundenkilometern durch das frühlingsgrüne Land rollten. »Aber Sie haben mir Ihren Namen nicht gesagt.«
»Lee«, sagte sie.
Die Art und Weise, wie sie nur mit einem einzigen Namen antwortete, hatte etwas Hoffnungsloses – als ob sie sich damit abgefunden hätte, eine unwichtige Figur zu sein, nicht viel mehr als ein Faktotum oder ein Haustier. Rafe richtete seinen Blick wieder auf das Betonband der Schnellstraße, die sich endlos vor ihnen erstreckte. Er sagte nichts mehr, bis sie am Ziel waren.
Das Ende der Fahrt kündigte sich an, als sie die Schnellstraße verließen und nach drei oder vier Kilometern auf einer Asphaltstraße durch das Tor eines Anwesens fuhren, das entweder wie ein sehr großes, herrschaftliches Landhaus oder wie ein kleines Institut aussah. Beim Tor und im umgebenden Park waren einige Dutzend Männer und Frauen in Zivilkleidern zu sehen, deren geheimdienstliche Funktionen unverkennbar waren.
»Hier?« sagte Rafe, als die Limousine vor einem breiten Portal hielt.
»Wir gehen gleich hinein«, antwortete Lee. Sie stieg aus, und er folgte ihr.
Sie wurden eingelassen. In der Vorhalle traten ihnen zwei weitere Geheimdienstler entgegen.
»Einen Moment, bitte«, sagte Lee. »Warten Sie hier.«
Sie ging durch die prunkhafte Halle, in deren Hintergrund sich eine breite Marmortreppe erhob. Sie klopfte an eine hohe, weißlackierte Tür und trat ein. Nach einem Moment kehrte sie zurück.
»Bitte kommen Sie, Mr. Harald«, sagte sie.
Rafe ging ihr nach, gefolgt von den beiden Männern. An der Tür trat sie zur Seite und streckte ihre Hand aus. »Die Aktentasche, bitte«, sagte sie trocken. Rafe lächelte und gab sie ihr.
Lee reichte sie einem der Männer weiter, der damit fortging. Der andere folgte Lee und Rafe in den Raum.
Er war eine Bibliothek oder eine Art Herrenzimmer. Vor einem großen Kamin, der aus Feldsteinen gemauert war und in dem Papier, Reisig und Holzscheite zum Anzünden bereit aufgeschichtet waren, saßen in großen Ohrensesseln die zwei Männer, mit denen Martin Pu-Li verabredet war. Rafe erkannte sie sofort.
Willet Forebringer, Chef der UNO-Polizeitruppe, dem sämtliche Polizeikräfte auf der Erde unterstanden, solange die aus dem einschläfernden Effekt der drahtlosen Energieübertragung entstandene Notsituation andauerte, war ein dünner, drahtiger Mann Mitte der Fünfzig, mit knochigem Gesicht und einem grauen Haarkranz um die bleiche Glatze. Pao Gallot, der ihm gegenübersaß, war sechzig und sah wie vierzig aus, mit vollem schwarzem Haar, einem rundlichen, festen Körper und einem jovialen, harmlos aussehenden Gesicht. Rafe erwartete, daß Forebringer ihn einem Verhör unterziehen würde, tatsächlich aber war es Pao Gallot, der zuerst das Wort ergriff – mit einem unverkennbaren französischen Akzent.
»Ich setze voraus«, sagte er, »daß Martin Pu-Li Sie schriftlich autorisiert hat, ihn zu vertreten.«
Rafe schüttelte seinen Kopf. Er blickte zu Lee und dem Geheimdienstmann, der sie in
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