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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johano Strasser
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kriminell gilt. Dass eine solche Dynamisierung des Ordnungsrahmens von vielen Menschen oft sogar als Befreiung erlebt wird, lässt sich an der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft ablesen. Wer nicht an Gott glaubt und dies offen bekennt, wird in einer modernen Gesellschaft nicht mehr wie noch im 18., teilweise bis ins 19. Jahrhundert hinein, gerichtlich verfolgt. Abtreibung im frühen Stadium der Schwangerschaft ist heute in den meisten westlichen Ländern kein strafwürdiges Verbrechen mehr. Dasselbe gilt für Homosexualität. Lehrer, die noch vor wenigen Jahrzehnten straflos Schüler verprügeln durften, hätten heute, wenn ihr Verhalten angezeigt würde, mit Strafverfolgung zu rechnen. Die eigene Tochter gegen ihren Willen zwangsweise zu verheiraten, gilt in unserer Gesellschaft heute, anders als noch vor zwei-, dreihundert Jahren, als strafbares Vergehen.

     
    Allerdings können dieselben Veränderungen, die die einen als Fortschritt begrüßen, bei anderen Ängste auslösen, Ängste vor uferloser Permissivität, davor, dass nun alles ins Rutschen gerät und überhaupt keine klare Trennlinie mehr zwischen gut und böse , zwischen erlaubt und verboten gezogen wird. Auch wenn die meisten Menschen in modernen Gesellschaften sich allmählich daran gewöhnt haben, dass Konventionen sich wandeln und innerhalb der eigenen Gesellschaft nach Religionszugehörigkeit und kulturellem Milieu, manchmal auch zwischen den Generationen variieren, tun sie sich doch schwer damit, anzuerkennen, dass keineswegs immer Einigkeit darüber herzustellen ist, was kriminell ist und was nicht.
     
    Was den meisten Menschen besonders schwerfällt, ist die Erkenntnis, dass wir dauerhaft mit dem Verbrechen und mit den Verbrechern leben müssen, ja, dass weder Verdrängen noch Wegsperren uns davor bewahren kann, im Verbrechen auch eine eigene Möglichkeit zu sehen. Das Verbrechen ist nicht das schlechthin andere, sondern Teil unseres Lebens, sogar unseres Selbst, ein »integrierender Bestandteil einer jeden gesunden Gesellschaft«, wie Emile Durkheim es einmal ausgedrückt hat. Nach dem Strafrechtler Bernhard Haffke folgt aus dieser Einsicht das Gebot, »das abweichende Verhalten nicht zu perhorreszieren und zum ›Bösen‹ zu dämonisieren«. 27 Das bedeutet aber nichts anderes, als dass die entlastende Strategie, abweichendes Verhalten einfach ins Außen zu verweisen, wie es populistische Bewegungen in aller Regel tun, in der modernen Gesellschaft schlicht nicht funktioniert. Anders gesagt: Wir dürfen den Fremden nicht zum Feind und den Kriminellen nicht zum Unmenschen stempeln, wir dürfen ihm nicht seine Menschenwürde absprechen, sondern müssen ihn als Teil der Gesellschaft akzeptieren. »Kriminalität«,
so Haffke in provokativer Zuspitzung, »ist nicht pathologisch, sondern normal«. 28
     
    Freilich wirkt es auf die meisten Menschen keineswegs beruhigend, wenn ihnen gesagt wird, Kriminalität sei normal. Oft ist es gerade die Verbindung zwischen biederer Normalität und monströsen Verbrechen, die die Menschen am tiefsten verstört. Mit einem Schlag wird uns dann die Nachtseite der vergesellschafteten Vernunft enthüllt und löst in uns Panik aus. Das gilt für viele Fälle von Sexualverbrechen, insbesondere Kindesmissbrauch durch biedere Onkel, Väter, Lehrer oder Priester, das gilt für jene Fälle, in denen eifrige Studenten oder nette Nachbarn urplötzlich als islamistische Selbstmordterroristen oder rechtsradikale Massenmörder in den Medien auftauchen, das gilt erst recht, wenn wie an der Colombine High School, an der Mississippi Tech, in Erfurt, Emsdetten, Winnenden, im finnischen Kauhajoki oder in Aurora/Colorado unauffällige junge Männer plötzlich zu Amokläufern werden und scheinbar grundlos ein Massaker anrichten.
     
    Wenn sich grauenhafte Verbrechen überall und jederzeit ereignen können, wenn biedere Nachbarn, unauffällige und freundliche junge Leute sich, wie es scheint, von einem Augenblick zum anderen in Täter verwandeln können, dann ist diese statistisch betrachtet durchaus erwartbare Normalität des Verbrechens noch angsterregender als die Vorstellung eines uns wesensfremden Bösen . Die Botschaft dieser Verbrechen lautet: Man kann nie und nirgends sicher sein; die Bedrohung ist auch dort, wo alles auf den ersten Blick vertraut, normal, geordnet erscheint: in der Universität, im Einkaufszentrum, in der Schule, im Kino, im Ferienlager, im Rathaus, in der Unternehmensverwaltung, sogar im Gerichtssaal. In

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