Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
vielen Fällen sind die Taten ganz offensichtlich keine Taten
von Sonderlingen oder Außenseitern, sondern von ganz normalen Menschen, von, zumindest auf den ersten Blick, bieder wirkenden Mittelschichtangehörigen aus äußerlich intakten Familien. Der moderne Amokläufer gehört zu den Erscheinungen, die unsere Gesellschaft am tiefsten erschrecken und verstören, weil durch ihn das Soziale selbst zur Bedrohung zu werden scheint. Über den Amokläufer schreibt Joseph Vogel: »Er kommt aus dem Unauffälligen. Er folgt dem Gesetz der Serie. Seine Wahl ist beliebig und seine Wahllosigkeit exakt.« Er tritt auf »als alltägliche Monstrosität, mit der eine unspürbare Gefahr plötzliche Gestalt annimmt und verdeutlicht, dass im solidarischen Frieden die Panik und der Ernstfall eingeschlossen bleiben.« 29
Wie aber soll man sich gegen monströse Taten schützen, die im ganz normalen Leben unserer Gesellschaft heranreifen und plötzlich, ohne Vorwarnung über uns hereinbrechen? Müssen wir im Alltag misstrauischer sein, überall und stets nach ersten Anzeichen für ein geplantes Verbrechen, für eine sich anbahnende Katastrophe fahnden? Tun wir gut daran, niemandem, auch den Menschen, mit denen wir seit Langem Umgang pflegen und die wir zu kennen glauben, über den Weg zu trauen? Die Sicherheitsindustrie und die Geheimdienste haben ein natürliches Interesse daran, ein solch pauschales Misstrauen zu säen, und allzu oft und allzu gern gehen ihnen die Medien und in der Folge große Teile der Öffentlichkeit auf den Leim. Die immer wieder aufkommende Forderung nach einer umfassenden Vorratsdatenspeicherung belegt das. Wenn, wie in Fällen von Terrorverdacht oder Kindesentführung, die Emotionen des Publikums besonders hochschlagen, werden selbst rechtsstaatliche, in der Menschenrechtserklärung von 1948 feierlich verkündete Grundsätze wie das Folterverbot leicht in Frage gestellt. Oder es kommt zu Tabubrüchen. So geschehen
im Jahr 2012, als das Verfassungsgericht erstmals den Einsatz der Bundeswehr im Inneren bei einer »Ausnahmesituation katastrophischen Ausmaßes« – was immer das sein mag – für erlaubt erklärt. Ein weiterer Schritt zur Aushöhlung der grundgesetzlich garantierten Demokratie, der keinen öffentlichen Aufschrei auslöst, weil er vielen Menschen als im Interesse unserer Sicherheit notwendige Maßnahme erscheint. Reißerische Berichte über Sexualverbrechen an Kindern führen nicht selten zu teilweise absurden Sicherheitsmaßnahmen. »Die Mehrheit«, schreibt Joachim Käppner in der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung vom 4./5. Juni 2011, »glaubt (...), die Gefahr für Kinder, von einem Sexualmörder geschnappt und getötet zu werden, sei um ein Vielfaches höher als früher. (...) Dabei sind solche furchtbaren Taten heute weitaus seltener (...).« Viele Eltern wagen es nicht mehr, ihre Kinder ohne Aufsicht draußen spielen zu lassen, fahren sie jeden Morgen mit dem Auto zur nahen Schule und holen sie nach Schulschluss wieder ab, verdächtigen jeden Lehrer, jeden Nachbarn, der sich Kindern gegenüber etwas weniger reserviert benimmt, als es üblich ist. »Es herrscht Angst. Angst verkauft Zeitungen, Angst bringt Wählerstimmen, Angst treibt Sicherheitspolitiker zu Höchstleistungen, Angst ist nicht mehr wegzudenken aus Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsprognosen.« 30
Jeder vierte Deutsche, das zeigen Umfragen, hat Angst, Opfer einer Straftat zu werden. Entsprechend misstrauisch begegnen viele heute ihren Mitmenschen. Hinter der Fassade des hilfsbereiten Nachbarn, des pflichtbewussten Beamten, des kinderlieben Onkels oder Nennonkels, das ist die Botschaft, die boulevardeske Medien täglich verbreiten, steckt oft ein Dieb, ein Betrüger, ein Kinderschänder, ein Terrorist. Aber ein solcher generalisierter Misstrauensmalus ist der sicherste
Weg zur Zerstörung von Zivilität und Humanität. Ohne Vertrauen geht es nicht. Nur wenn wir unseren Mitmenschen, den Nachbarn, Freunden und Kollegen, aber auch den vielen Fremden, mit denen wir in der modernen Gesellschaft täglich umgehen, mit einem Vorschuss an Vertrauen begegnen, können wir in zivilen und humanen Verhältnissen leben. Ein risikofreies Leben gibt es nicht, aber wir haben, nüchtern betrachtet, auch keinen Grund anzunehmen, dass tödliche Gefahren an jeder Straßenecke und hinter jeder Gartenhecke lauern. Ein unvoreingenommener Blick auf unsere alltägliche Erfahrung mag uns helfen, auf dem Teppich zu bleiben und uns von der
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