Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
eine kleine Gruppe eine ernst zu nehmende Möglichkeit, und sie wird umso wahrscheinlicher, je besinnungsloser mächtige Staaten in ihrer Panik um sich schlagen.
Neben der ökologischen Krise und den Schrecken eines außer Kontrolle geratenen Weltfinanzmarkts sind es solche apokalyptischen Ängste, die das Bewusstsein der Menschen heute grundieren. Sie werden noch einmal verstärkt durch die Medien, die den Schrecken Tag für Tag in Bild und Ton über den ganzen Erdball verbreiten. Das Verstörendste dürfte dabei das Auftreten von Selbstmordattentätern sein. Unsere moderne Welt, die in ihrem Denken und Handeln, die in all ihren Ordnungs- und Sicherungssystemen stets das von eigennützigen Interessen geleitete und in diesem Sinne vernünftig kalkulierende Individuum voraussetzt, ist mit diesem Phänomen völlig überfordert. Wie soll man Gegner bekämpfen, wie soll man mit Gegnern verhandeln, die bei ihren gegen uns gerichteten
Aktionen zwar im Sinne westlicher Rationalität planvoll vorgehen, aber das rudimentärste rationale Interesse an der Selbsterhaltung vermissen lassen? Haben wir es hier womöglich mit einer besonderen Form von Geisteskrankheit zu tun, und wenn ja: Was sind ihre Ursachen und wie wäre sie, wenn die von ihr Befallenen rechtzeitig diagnostisch identifiziert werden könnten, zu behandeln? Oder ist der Selbstmordattentäter doch eher Ausdruck eines sozialen und politischen Problems, auf das mit politischen Mitteln zu antworten wäre?
Hier ist vom Ungleichgewicht des Schreckens die Rede, um die Asymmetrie im Verhältnis der Konfliktparteien deutlich zu machen. Es sind die Machtlosen, die Gedemütigten, die in ihrer Würde tief Verletzten, die den Westen heute mit ihrer Irrationalität in Schrecken versetzen. Zur Zeit des Ost-West-Gegensatzes hatte es der Westen mit einem machtvollen Gegner zu tun, der – zumindest nach Stalins Tod – bei allen Unterschieden doch im Wesentlichen derselben Rationalität des Denkens und Handelns folgte wie der Westen selbst. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten waren zwar als Gegner gefährlich, aber in ihren Aktionen und Reaktionen durchaus berechenbar. Die NATO und die westliche Diplomatie konnten davon ausgehen, dass sich die andere Seite im politischen Schachspiel im Großen und Ganzen an die Regeln halten würde. Man konnte mit diesem Gegner sogar Verträge schließen und so einen halbwegs gesicherten Status quo erreichen und am Ende, befördert durch die neue Ostpolitik und den Helsinki-Prozess, eine den Ost-West-Gegensatz überwindende Dynamik in Gang setzen. Das ist in der gegenwärtigen Phase des Ungleichgewichts des Schreckens anders. Die Bedrohung ist ubiquitär geworden, ist nicht mehr lokalisierbar als ein »Reich des Bösen« oder als identifizierbare Gruppe von »Schurkenstaaten«, wie noch George W. Bush glauben machte. Auf der anderen Seite , die es so gar nicht mehr gibt, befindet sich niemand, der als potenzieller Partner für Verträge in Frage käme.
Die Bedrohung, der wir im Zeitalter der asymmetrischen Konflikte ausgesetzt sind, ist umso unheimlicher, je schwerer sie zu identifizieren ist. Es entspricht der Logik des Terrorismus, dass er keine Front errichtet, keine unpassierbare Trennlinie zwischen uns und ihnen . Die Gewalt steckt unerkannt in der Gesellschaft, in der wir uns bewegen, sie kann jederzeit und an jedem Ort über jeden von uns hereinbrechen, sie ist so sehr Bestandteil des Sozialen, dass im Prinzip jeder als potenzieller Täter und potenzielles Opfer in Frage kommt. Auch Samuel Hutchinsons Versuch, die neue Konfliktlage als Kampf der Kulturen zu deuten, führt in die Irre. Der Terrorismus lässt sich keiner Kultur, keiner Religion, keiner Nation, keiner sozialen Gruppe eindeutig zuordnen. Genau das aber macht den Terrorismus zu einem so wirksamen zersetzenden Gift in der modernen Gesellschaft. Weil im Prinzip alle Gesellschaftsmitglieder unter dem Verdacht der Täter-oder Komplizenschaft stehen, untergräbt der Terrorismus das Vertrauen, ohne das hochkomplexe moderne Gesellschaften nicht lebensfähig sind.
In Norwegen haben Bevölkerung und Regierung nach den Anschlägen des Massenmörders Anders Behring Breivik bewiesen, dass sie die tödliche Gefahr für die Gesellschaft begriffen haben. In einer großartigen Manifestation der Gemeinschaftlichkeit demonstrierten sie ihre Entschlossenheit, die Vertrauensgrundlagen einer offenen demokratischen Gesellschaft zu erhalten. Es ist anzunehmen, dass sich hier
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