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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johano Strasser
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der Diakonie, auf die Mitgliedschaft in einem Verein, einer Gewerkschaft, einer Partei, schließlich Ruhestand. Ein Leben führen, das hieß noch vor wenigen Jahrzehnten für die meisten Menschen, eine im wesentlichen bekannte Reihe von Stationen zu durchlaufen und dabei einen weitgehend vorgeprägten Satz von Rollen einzunehmen. Der Lebenslauf fand in der Regel auf einer vorgezeichneten Bahn statt, war weitestgehend absehbar und in Grenzen planbar. Wem das nicht abenteuerlich genug war, der konnte aus der Routine ausbrechen, sich verweigern, auf fantasievolle und provokative Weise anders leben, aber zumeist auch wieder in die Sicherheit eines institutionalisierten Lebens zurückkehren, wenn er des Abenteuers überdrüssig wurde.
     
    Das ist heute anders. Wer als junger Mensch heute »ins Leben tritt«, weiß in der Regel nicht so recht, worauf er sich da einlässt und wohin die Reise geht. Die alten Laufbahnordnungen sind demontiert, der lebenslange Beruf auf der Basis in der Jugend erworbener Qualifikationen eine Ausnahme, die Garantien des Sozialstaats und politisch geregelter Arbeitsbeziehungen sind durchlöchert. Leben ist für eine wachsende Zahl von Menschen zum unberechenbaren Risiko geworden. Während die Menschen über Jahrtausende davon ausgehen konnten, dass die Welt, in der sie lebten, morgen und übermorgen
mehr oder weniger so aussehen würde, wie heute, leben sie heute in dem Bewusstsein, dass morgen schon alles anders sein kann: faszinierend, beunruhigend, deprimierend anders.
     
    Überall haben die traditionell lebensleitenden Institutionen – Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Nachbarschaftsvereine, Kleingartenkolonien, stabile Belegschaften an festen Arbeitsplätzen  – unter dem Druck gesteigerter Mobilitätsanforderungen und angesichts radikalisierter Marktbeziehungen in einer globalisierten Welt ihre bindende und Halt gebende Funktion weitgehend eingebüßt. Gleichzeitig sind nahezu überall in der westlichen Welt die Halteseile des sozialstaatlichen Sicherungssystems brüchig geworden. »Alles was Sicherheit bietet«, schreibt Zygmunt Baumann in seinem Buch Die flüchtige Moderne, »verdampft, während die dem Individuum zugeschriebenen (...) Verantwortlichkeiten in bisher unbekanntem Maße wachsen.« 32 Den Menschen wird immer öfter zugemutet, als radikale Individualisten ihr Leben sozusagen aus dem Nichts selbst zu entwerfen und sich auf eine Reise zu begeben, von der niemand wissen kann, wohin sie geht. Das mag auf den ersten Blick für manchen stimulierend erscheinen und eine Zeitlang gar als berauschende Freiheit erlebt werden, erweist sich aber bald für die meisten Menschen schlicht als Überforderung.
     
    Natürlich gab es auch schon früher Krisenzeiten, in denen die tradierten Rahmenbedingungen des Lebens fragwürdig wurden und die Menschen sich gezwungen sahen, ihrem Leben eine neue Ordnung zu geben, so z. B. in der hellenistischen Epoche, als die epikureische Tendenz des Denkens die Sorge um das Selbst in den Mittelpunkt der Philosophie rückte, im 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, als die antike Welt zusammenbrach, und während der Renaissance, die unter dem
Tarnnamen der Wiedergeburt den Auftakt zu einer langen Reihe revolutionärer Veränderungen gab. Aber erst die Moderne bringt eine derart schnelle Folge grundstürzend neuer Erkenntnisse der Wissenschaft und einen so umfassenden, sich ständig beschleunigenden Wandel, dass bei den Menschen neben den euphorischen Fortschrittserwartungen auch eine tiefe existenzielle Verwirrung erzeugt wird.
     
    Gustave Flaubert hat in seinem aus dem Nachlass veröffentlichten Roman Bouvard und Pécuchet die Lage des modernen Menschen ironisch am Beispiel zweier bildungsbeflissener Rentner geschildert, die sich vergebens bemühen, Ordnung in das auf sie einstürmende Wissenschaos zu bringen, um so Sicherheit zu erlangen:
    »›Die Sonne ist millionenmal größer als die Erde, der Sirius ist zwölfmal so groß wie die Sonne, die Kometen haben eine Länge von vierunddreißig Millionen Meilen.‹
    ›Das ist ja zum Verrücktwerden‹, sagte Bouvard (...).
    Pécuchet fuhr fort:
    ›Die Geschwindigkeit des Lichts beträgt achtzigtausend Meilen pro Sekunde. Ein Lichtstrahl der Milchstraße braucht sechs Jahrhunderte, bis er zu uns kommt. Und so kann es vorkommen, dass ein Stern, den wir beobachten, längst verschwunden ist. Viele sieht man nur zu gewissen Zeiten, andere kommen niemals wieder oder ändern ihre Stellung; alles ist in

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