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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johano Strasser
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von Gebilden, mit denen man so eng verbandelt ist wie mit seinem Ich und seiner Gesellschaft, schafft Unsicherheit. Sieht man in die Welt, so sieht man eine undurchdringliche Wildnis. Sieht man in den Spiegel, so verirrt man sich in sich selbst. Die Welt ist eine Fremde; und das eigene Ich ist nicht eine Spur vertrauter.« 36
     
    Als Jürgen Habermas in den achtziger Jahren von der »neuen Unübersichtlichkeit« sprach, ging es ihm vor allem um die manifeste Krise des Wohlfahrtsstaats und die Erschöpfung der arbeitsgesellschaftlichen Utopie: »Wenn die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus.« 37 Von den drei zentralen Steuerungsressourcen moderner Gesellschaften, Geld, Macht und Solidarität, so Habermas, hätten sich die beiden ersten zulasten der letzteren durchgesetzt, sodass es auf breiter Basis zu sozialer Desintegration und Sinnverlust komme. 38 Damals freilich, als die Konsequenzen des marktradikalen Rückfalls noch nicht offen zutage lagen, traf diese Einrede auf wenig Zustimmung. Die wohlfahrtsstaatliche Ordnung – die in den USA nach der Roosevelt’schen Politik des New Deal und im westlichen Europa unter dem nachwirkenden Schock des Faschismus und angesichts der Herausforderung durch den Sozialismus auf der Basis eines gesellschaftlichen Kompromisses
zwischen der Arbeiterbewegung und den bürgerlichen Parteien möglich geworden war –, war im Grunde schon brüchig geworden, als, wiederum in den USA, mit der einseitigen Kündigung des Bretton Woods- Vertrags das Ende der Nachkriegszeit eingeläutet wurde. Als daraufhin in Großbritannien Margret Thatcher und in den USA Ronald Reagan die neoliberale Revolution in Gang setzten, die bald die ganze westliche Welt und nach 1989 auch die Länder des ehemaligen Sowjetimperiums erfasste, kam es zu einem Prozess der Deregulierung aller Sozialverhältnisse sowie einer vom Finanzkapital angetriebenen Beschleunigung allen Marktgeschehens, die die Lebenswelten der Menschen von Grund auf destabilisierten.
     
    Die daraus resultierende Unübersichtlichkeit führt nicht nur zu einer wachsenden Angst vor Kontrollverlust. Gleichzeitig schwinden bei vielen Menschen die individuellen Ressourcen, mit der unübersichtlichen Situation fertig zu werden, weil durch die Schwächung und teilweise Auflösung der lebensleitenden Institutionen auch die Möglichkeiten der zivilgesellschaftlichen Selbsthilfe eingeschränkt werden. Das Gefühl, in ein unübersichtliches, nicht kontrollierbares Geschehen verstrickt zu sein, ohne im Notfall auf Ressourcen individueller und kollektiver Selbsthilfe zurückgreifen zu können und dennoch unwiderruflich für das Gelingen des eigenen Lebens verantwortlich zu sein, überfordert immer mehr Menschen, stiftet Versagensängste und fördert depressive Gemütslagen. Sie fühlen sich ausgeliefert, allein gelassen mit einer Welt, die sie nicht mehr begreifen.
     
    Die Nationalstaaten können heute angesichts der Gewalt globalisierter Prozesse die Sicherheitserwartungen der Menschen nicht mehr erfüllen. Im Gegenteil: »Der Postwohlfahrtsstaat aktualisiert Unsicherheit im Spannungsfeld von zugespitzter Individualisierung einerseits und postnationaler Staatlichkeit
andererseits.« 39 Anders ausgedrückt: Die heute überall im neoliberalen Ungeist betriebene Sozialpolitik (die im Grunde keine Sozialpolitik ist) zerstört solidarische Sicherungen und bürdet den Mühseligen und Beladenen die Verantwortung für ihr Los auf, die sie beim besten Willen nicht tragen können. Auf der Ebene des politisch verfassten Europas könnten neue stabile Sozialbeziehungen im Prinzip institutionalisiert werden. Aber hier herrscht heute eine durch nationale Engstirnigkeit und neoliberale Voreingenommenheit bewirkte Konfusion, die jedes koordinierte Handeln nahezu unmöglich macht. Das Ergebnis ist eine sich ausbreitende Stimmung des Rette-sich-wer-kann , die nicht nur immer häufiger zu nationalen Alleingängen führt, sondern auch im Alltagsleben der Menschen den Blick für solidarische Lösungsmöglichkeiten trübt. Zwar hat die frohe Botschaft des Neoliberalismus, dass jeder Einzelne seinen Marschallstab im Tornister trage und, wenn er es nur energisch genug wolle, auch den Aufstieg zu Wohlstand und Sicherheit schaffen könne, nach dem Debakel der Finanzkrise ihre Überzeugungskraft weitgehend eingebüßt. Aber bisher haben weder die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union noch die Union als Ganze daraus

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