Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Bewegung, alles vergeht.‹
›Aber die Sonne bewegt sich nicht.‹
›Das glaubte man früher. Heute sagen die Gelehrten, sie bewege sich mit rasender Geschwindigkeit auf das Sternenbild des Herkules zu.‹« 33
Der verzweifelte Versuch der beiden Biedermänner Bouvard und Pécuchet, durch die Einverleibung aller wissenschaftlicher
Erkenntnisse ihrer Zeit festen Boden unter den Füßen zu bekommen, scheitert auf absurde Weise – ein Menetekel, das unsere heutige Situation schlagartig erhellt. Wenn alles in Bewegung ist, wir uns an nichts Verlässliches mehr halten können, verlieren wir selbst, verliert unser Leben seinen fassbaren Sinn. Niklas Luhmann hat die moderne Orientierungslosigkeit in seiner systemtheoretischen Begrifflichkeit so benannt: »Die moralische Gewissheit guten Handelns versagt als Angstdämpfung, wo hohe, nahezu beliebige Komplexität der Welt und der Gesellschaft institutionalisiert sind. Dann wird Sicherheit zum Problem und zum Thema.« 34
Natürlich wissen wir alle, dass Sicherheit und Geborgenheit auch als beengend erlebt werden und Atemnot erzeugen können. Die überraschungslose Stereotypie des Alltags, die im Großen und Ganzen immer gleichen Tages-, Wochen- und Jahresabläufe, die Arbeits- und Freizeit-, die Haushalts- und Eheroutine verursachen nicht selten quälende Langeweile und Überdruss und nähren den verzweifelten Wunsch nach Abwechslung. In unserer Gesellschaft, in der die Autonomie zum »höchsten Wert« (Alain Ehrenberg) geworden ist, werden solche Reaktionen wahrscheinlicher und natürlich tragen auch sie zur Delegitimierung sozialer Bindungen und Institutionen bei. Aber wenn alles im Fluss ist, wenn wir ständig mit neuen Herausforderungen konfrontiert werden, wenn um uns herum die Welt sich in rasendem Tempo verändert, geraten wir unter Dauerstress, verlieren die Orientierung und brechen am Ende womöglich unter der psychischen Überforderung zusammen. Ohne einen festen Bezugspunkt, ohne eine übersichtliche Rhythmisierung des Alltags, ohne stabile Leitplanken, ohne Verpflichtungen gegenüber der Familie, den Freunden, den Arbeits- oder Vereinskollegen, ohne die Einbettung in stabile Sozialbeziehungen, ganz auf sich selbst
und ihre erratischen Wünsche zurückgeworfen, gelingt es den meisten Menschen offenbar nur schwer, ihrem Leben einen Sinn und eine Kontur zu geben.
Allzu vorschnell glaubten manche Soziologen und Psychologen in den achtziger Jahren eine neue Jugend heranwachsen zu sehen, die radikalindividualistisch nur noch »ihr Ding« mache und sich allenfalls auf Zeit und immer nur unter dem Aspekt des egoistischen Lustgewinns auf andere Menschen einlasse. Nicht einmal die Kontinuität des eigenen Ich schien diese neue Jugend noch nötig zu haben. Ihr »multiples Selbst«, so war zu hören und zu lesen, ermögliche es ihnen, sich chamäleonartig an die sich immer schneller wandelnde Umwelt anzupassen. Für diese neue Jugend, so wurde uns suggeriert, lösten sich die Grenzen zwischen den Kulturen auf, sie sei in der Lage, ihre Identität je nach Laune und Bedarf zu wechseln. Jedoch, wie der Kulturanthropologe Christoph Antweiler zu Recht betont, haben Menschen »ein psychisches Bedürfnis an Stabilität und Standardisierung«, wozu außerdem eine »starke psychische Orientierung und auch physische Beschränkung auf lokale Räume« gehört. 35 Auch die Tatsache, dass alle Jugenduntersuchungen der letzten Jahre regelmäßig zu dem Ergebnis kommen, dass Familie und Freundschaft auf der persönlichen Wertskala junger Leute ganz oben stehen, scheint das zu belegen. Gegen die starken Kräfte, die die Vereinzelung der Menschen in der modernen Gesellschaft vorantreiben, setzen sich diese offenbar instinktiv zur Wehr, indem sie sich des Schutzes der Kleingemeinschaft zu vergewissern trachten.
Die »zappeligen Wesen, die Ich genannt werden« (Ludwig Marcuse), sind auf sich allein gestellt ganz offensichtlich nicht in der Lage, halbwegs unbeschädigt durchs Leben zu kommen. Ohne stabile, verpflichtende und vertrauenstiftende
Sozialbeziehungen geht es offenbar nicht. Was Ludwig Marcuse mitten in dem grauenhaften Pandämonium des Zweiten Weltkriegs seiner Zeit bescheinigt, gilt heute erst recht. Die Dynamik der Moderne tendiert dazu, alle einst so klar erscheinenden Konturen von Ich und Welt zu verwischen und so Unsicherheit und Angst zu erzeugen: »Wer heute lebt kann seine Welt nicht fassen – und kann sich selber nicht fassen; und diese Rätselhaftigkeit
Weitere Kostenlose Bücher