Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
im Einstieg in die Nutzung der Kernenergie
einen unverzeihlichen Sündenfall sehen, aber das ändert nichts daran, dass sich das Wissen um diese bedrohlichen technischen Möglichkeiten nicht mehr aus der Welt schaffen lässt. Solange wir uns nicht dazu durchringen, in Zukunft nicht mehr alles zu tun, was wir können, solange es uns nicht gelingt, einen weltweiten Verzicht auf die Anwendung der nuklearen und der anderen unverantwortbaren Techniken zu vereinbaren und zu garantieren, werden wir mit der Angst vor der eigenen Ungeheuerlichkeit leben müssen.
Der Psychoanalytiker Martin Wangh hat das hohe Angstniveau in der heutigen Gesellschaft einmal als ein Falloutprodukt der Atombombe bezeichnet. Auch wenn wir es zu verdrängen suchen oder wortreich dementieren, wir wissen oder ahnen zumindest, dass wir uns mit der militärischen und mit der angeblich so friedlichen energiepolitischen Nutzung der Atomspaltung auf einen Weg begeben haben, den wir niemals hätten beschreiten dürfen. Zwar behaupten immer noch viele Politiker und Wissenschaftler, nach sorgfältiger Abwägung des Für und Wider die Verantwortung für diese Technik übernehmen zu können, aber wenn sie ehrlich sind, werden sie sich eingestehen, dass niemand bei nüchterner Betrachtung der Risiken dies von sich sagen kann. Bei der militärischen Nutzung reduziert sich denn auch, genau besehen, die Sicherheitsdiskussion auf die zumeist nur verklausuliert geäußerte vage Hoffnung, dass die Atombombe niemals einem Regime oder einer Organisation verfügbar sein wird, die selbst dann nicht vor ihrer Anwendung zurückschrecken würden, wenn damit die sichere Selbstvernichtung verbunden wäre. Bei der zivilen Nutzung ist die Lage kaum weniger absurd. Was die Entsorgung des strahlenden Mülls angeht, herrscht ebenfalls das Prinzip Hoffnung, und beim Katastrophenschutz sind der Dilettantismus und die Gesundbeterei derart bestürzend, dass eigentlich nur noch sarkastische Kommentare angebracht sind. Ulrich Beck hat die von Amts wegen verbreiteten idyllischen
Vorstellungen, was im Falle eines ernsthaften Störfalls zu tun sei, vor einigen Jahren folgendermaßen kommentiert: »Ausländische Reaktorunfälle finden aus verwaltungstechnischen Gründen nicht statt, inländische Katastrophen sind so liebenswürdig, sich auf eine Gefährdung von neunundzwanzig Kilometer im Umkreis eines Kernkraftwerkes zu beschränken. In diesem Sinne wäre zu unterscheiden zwischen der Verwaltung des Nonsense und der Verwaltung des Nonsense mit Nonsensemitteln.« 52
Das Fatale an unserer Lage ist, dass die Last der Verantwortung sich nicht einfach auf diejenigen abwälzen lässt, die diese technischen Systeme ersannen und ihre Installierung politisch ermöglichten. Denn der Geist, aus dem heraus sie geschaffen wurden, ist der Geist, der bewusst oder unbewusst auch unser Denken prägt und unser Handeln antreibt. Es sind unsere eigenen Wünsche und Erwartungen, unsere eigenen Machtgelüste und Grandiositätsfantasien, die Wissenschaftler, Techniker und Politiker immer wieder motivieren, Grenzen zu überschreiten – auch solche, die sie vielleicht besser respektierten. Immer wieder haben Denker und Dichter die Welt der Technik als die »große Selbstbegegnung des Menschen« (Josef Luitpold) gepriesen. Und in der Tat hat sich der Mensch mit allen Facetten seines Wesens in seinen Produkten auf imponierende Weise zum Ausdruck gebracht. Heute aber stellen wir erschrocken fest, dass wir im Spiegel unserer eigenen Schöpfungen immer häufiger einem zwielichtigen Ungeheuer begegnen, das uns einerseits fasziniert und andererseits, von Grauen erfasst, zurückschrecken lässt.
Die Ambivalenz unserer Einstellung zu unseren eigenen Produkten ist bei der Gentechnik oder bei der Präimplantationsdiagnostik heute vielleicht am augenfälligsten. Instinktiv
scheuen die meisten von uns davor zurück, den Lockrufen jener Biowissenschaftler zu folgen, die sich heute daranmachen, als eugenische Anthropotechniker die soziale, geistige und physische Natur des Menschen zu verbessern . Viele Menschen lehnen solche Eingriffe in die Schöpfung aus religiösen Gründen ab; sie glauben darin den verwerflichen Versuch des Menschen zu erkennen, Gott zu spielen, und sind überzeugt, dass er nur in einer Katastrophe enden kann. Aber auch ganz und gar säkularisierte Menschen sehen darin nicht selten eine höchst fragwürdige Grenzüberschreitung, weil sie annehmen, dass der Mensch der damit verbundenen
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