Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
die Finanzmärkte fordert immer neue Opfer, und die Politiker scheinen keine andere Wahl zu haben, als seinen Anordnungen zu gehorchen, um ihn bei Laune zu halten. Fast täglich erfahren die Menschen, dass die einst so wirksam Schutz organisierenden Nationalstaaten unter den neuen Bedingungen diesen nicht mehr bieten können. Dass eben diese Staaten vielmehr, um im globalisierten Wettbewerb und angesichts eines tyrannischen Weltfinanzmarkts bestehen zu können, ihre wohlfahrtsstaatlichen Sicherungen Schritt für Schritt abbauen und die Menschen in eine Konfrontation mit anonymen globalen Mächten zwingen, die sie unter keinen Umständen bestehen können. Kein Wunder, dass in dieser Situation die Außenwelt und alles Fremde von vielen als Bedrohung empfunden wird und immer mehr Menschen, sofern sie die Mittel dazu haben, sich aus der zerfallenden großen Gesellschaft zurückziehen und sich in homogenen Gemeinschaften abzuschließen trachten, um sich so gegen die Zumutungen und Bedrohungen des Fremden zu schützen.
Überall in den westlichen Städten kann man seit Jahren beobachten, wie dieser Prozess der Separierung und der Abschottung fortschreitet. Was unter den postkolonialen Bedingungen der Dritten Welt für die einheimischen Eliten schon seit Langem üblich war, ist in den letzten Jahrzehnten auch in der Ersten Welt an der Tagesordnung, am auffälligsten in den USA. In dem Maße, indem die einstmals zuverlässige soziale Ordnung der großen Gesellschaft, die den Umgang mit dem Fremden berechenbar machte, zerfällt und die sozialen Unterschiede und mit ihnen die Angst vor sozialem Abstieg zunehmen, wächst die Neigung, sich in möglichst homogene Gemeinschaften zurückzuziehen, die Reichen in gated communities , die Mittelschicht in gepflegte Vorstadtsiedlungen oder gentrifizierte Altbauviertel. Für die einheimische Unterschicht und die Mehrheit der deklassierten Fremden bleiben da zumeist nur möglichst ethnisch homogene moderne Großstadt-Gettos. Dass dieser Prozess angesichts der »Krise des öffentlichen Raums« (Zygmunt Baumann) eine gewisse Logik hat, ist kaum zu bestreiten. Handeln im Sinne zweckorientierter Praxis setzt eine funktionierende soziale Ordnung voraus, in der die Reaktionen der anderen einigermaßen berechenbar sind. Nur wenn eine solche Ordnung institutionell verbürgt ist, stellt sich das Vertrauen ein, das als Basis aller zivilen Kommunikation und Interaktion unerlässlich ist. Erodiert die soziale Ordnung und damit das Vertrauen, das für die Interaktionen in einem gemeinsamen Raum der Öffentlichkeit Voraussetzung ist, liegt es in der Tat nahe, sich in Interessengemeinschaften oder ethnisch homogene Gemeinschaften zurückzuziehen, weil hier noch am ehesten berechenbare Reaktionen der Interaktionspartner erwartet werden können.
Die Haken an der Sache sind freilich leicht zu erkennen. Wer die Geborgenheit und Sicherheit einer solchen abgeschotteten Gemeinschaft erstrebt, muss auf einen Teil seiner Individualität und Freiheit verzichten und insofern ein sacrificium rationis
erbringen, als er sich gegen Informationen und Überlegungen, die die fraglose Einheit der Gemeinschaft gefährden könnten, weitgehend immunisieren muss. Wo dies geschieht, handelt es sich in der Tat um einen Rückschritt, um eine Umkehrung jenes modernen Prozesses der Emanzipation des Individuums, der gewöhnlich auch als Ausgang des Menschen aus der geistigen Enge, der sozialen Kontrolle und der Rückständigkeit der (dörflichen oder kleinstädtischen) Gemeinschaft in die Freiheit und Anonymität der vernunftgeleiteten großen Gesellschaft gedeutet wurde. Allerdings zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass Gemeinschaft und Gesellschaft keineswegs sich ausschließende Organisationsformen sind, wie es Ferdinand Tönnies in seiner 1887 veröffentlichten Abhandlung Gemeinschaft und Gesellschaft und nach ihm viele Soziologen suggerierten.
In der modernen urbanen Gesellschaft stoßen wir an vielen Stellen auf gemeinschaftliche Lebensformen, die durchaus mit der Offenheit der modernen Gesellschaft vereinbar sind, ja, diese sogar für viele Menschen erst lebbar machen. Selbst dort, wo Menschen sich, verschreckt durch die Strapazen der pluralistischen Gesellschaft, in möglichst homogene Gemeinschaften zurückziehen, gelingt die Abschottung gegenüber der Umwelt angesichts der engen Verflechtung unterschiedlicher Lebenssphären und der grenzenlosen Möglichkeiten der Kommunikation heute niemals total. Auch
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