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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johano Strasser
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in diesen abgeschotteten Gemeinschaften bleibt man angewiesen auf die Leistungen von Menschen, die außerhalb der Gemeinschaft leben, lässt sich die Begegnung mit den Fremden  – und sei es die durch die Medien vermittelte – niemals völlig vermeiden. Zudem kann eine moderne Gemeinschaft, wenn sie den erreichten Grad der Spezialisierung in Expertenkulturen nicht drastisch zurückfahren und damit Stagnation riskieren will, niemals jene Homogenität des Denkens und Handelns erreichen, die manche in ihrer Sehnsucht nach Beheimatung und
Geborgenheit für wünschenswert halten. Kommunikation und Interaktion in Expertenkulturen reichen zwangsläufig über den Kreis der Gemeinschaft hinaus und führen zu unterschiedlichen perspektivischen Weltdeutungen. Damit aber erschweren sie auch die kommunitäre Identitätsstiftung.
     
    Dass die Geborgenheit in Kleingemeinschaften wie der Familie, dem Freundeskreis oder der Nachbarschaft stabilisierend wirken und helfen kann, die vielfältigen Risiken des modernen Lebens zu bestehen, ist zweifellos richtig. Auch hat die kleine Gemeinschaft einen wesentlichen Anteil daran, jene Tugenden (z. B. Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit) zu entwickeln und zu befestigen, ohne die moderne Gesellschaften nicht lebensfähig sind. 66 Was die Engländer den politischen Körper (body politic) nennen, also das Gemeinwesen oder die Gesamtheit der Staatsbürger, bleibt ohne die Erfahrung der anschaulichen Körperlichkeit des Sozialen in der kleinen Gemeinschaft ein leeres Abstraktum. Aber die Gemeinschaft ist nur insofern sozial produktiv, als sie spannungsreich auf die große Gesellschaft bezogen bleibt. Die absolut störungs- und angstfreie Idylle – das erleben auch allzu selbstbezügliche Liebespaare immer wieder – ist ein unerfüllbarer Traum – und ein nicht einmal durchweg schöner dazu. Gemeinschaften, die sich gegenüber der Außenwelt abschließen, werden alsbald steril, fördern nicht die Entwicklung und Stärkung des Individuums, sondern engen es ein, fallen alsbald hinter den erreichten Stand von Wissenschaft und Technik zurück und behindern jede Art von Kreativität. Nur wenn sie offen bleiben für Einflüsse von außen, für die Begegnung mit dem Fremden, sind sie als augenfälligster Ausdruck der Sozialnatur des Menschen und als Einübungsfeld sozial-empathischer Verhaltensweisen wirklich produktiv. In diesem Sinne betont auch ein Kommunitarist wie Amitai Etzioni: »Wir brauchen
neue Gemeinschaften, in denen die Menschen Wahlmöglichkeiten haben, die genug Raum für divergente Sub gemeinschaften bieten und doch gemeinsame Bande aufrechterhalten.« 67
     
    Was sich bei der Abschottung in homogenen Gemeinschaften am negativsten auswirkt, ist, dass die ausbleibende Provokation durch das Fremde und die Fremden allzu leicht zu Provinzialität im Denken und Innovationsträgheit im Handeln führt. Zu Recht spricht Herfried Münkler in diesem Zusammenhang von einer »kommunitaristischen Regression«. Denn in der Tat bedeutet der Rückzug aus der großen Gesellschaft in die abgeschottete Gemeinschaft die Zurücknahme einer entscheidenden zivilisatorischen Leistung der Moderne; der Fähigkeit nämlich, »mit Fremden zu interagieren, ohne ihnen ihr Fremdsein zum Vorwurf zu machen oder sie zu nötigen, das, was sie zu Fremden macht, abzulegen oder zu verleugnen.« 68 Und genau dieser Fähigkeit verdankt die moderne Gesellschaft einen Großteil ihrer erstaunlichen Anpassungs- und Innovationsfähigkeit.
     
    Für unseren Zusammenhang ist aber entscheidend, dass sich auch der Sicherheitsgewinn, den sich die Menschen von der Abschottung in möglichst homogenen Gemeinschaften versprechen, in aller Regel nicht oder nicht in dem erwarteten Umfang einstellt. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat immer wieder auf den Teufelskreis von Angst, Abschottung und vermehrter Angst hingewiesen, so 1986 in dem Buch Verfall und Ende des öffentlichen Lebens – Die Tyrannei der Intimität und 1994 in Civitas – Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Das, was er in den achtziger und neunziger Jahren in den USA beobachtet hat, ist mittlerweile auch in Europa zu konstatieren. »Das Wachstum der amerikanischen
Städte hat in den letzten zwei Jahrzehnten zur Entstehung ethnisch relativ homogener Wohnviertel geführt, und es scheint kein Zufall zu sein, dass die Angst vor Außenseitern in dem Maße gewachsen ist, wie diese Wohnviertel vom Rest der Stadt abgeschnitten worden sind.« 69

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