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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johano Strasser
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ist allerdings noch bedeutsamer, dass Gesellschaften, die in einem hohen Maß dezentral organisiert sind und sich im Zweifelsfall auf die individuelle oder zivilgesellschaftliche Selbsthilfekompetenz der Menschen verlassen können, auf Unfälle, Anschläge oder Naturkatastrophen weitaus elastischer reagieren als hochzentralisierte Gesellschaften. Die Folgen solcher Zwischenfälle halten sich in stärker dezentral organisierten Gesellschaften zumeist in engen Grenzen. Entsprechend fühlen sich die Menschen in solchen Gesellschaften weniger bedroht, sodass ein Großteil des heute üblichen Sicherheitsaufwands überflüssig wird. Dagegen schwebt über eher zentralistisch organisierten Gesellschaften mit einem hohen Anteil an Risikotechnologie eine permanente Notstandsdrohung, und entsprechend sind die Aufwendungen für Sicherheit hier um ein Vielfaches höher. Als Fazit kann also festgehalten werden: Funktionale Dezentralisierung ist im Gegensatz zur Abschottung in homogenen Gemeinschaften mit der Offenheit moderner Gesellschaften vereinbar und kann wesentlich dazu beitragen, unsere modernen Sicherheitsprobleme abzumildern.

3. Salto mortale – oder: Der Ausbruch aus dem Goldenen Käfig
    Das große Sicherheitsbedürfnis des modernen Menschen ist so offensichtlich, dass man leicht übersehen kann, dass Gefahren zuweilen auf Menschen auch stimulierend wirken und als lustvoll erlebt werden können, vor allem, wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie allzu behütet aufwachsen und ihrem Leben die wirklichen Herausforderungen fehlen. Dann kann es passieren, dass sie plötzlich aus dem Goldenen Käfig oder aus der Langeweile einer abgesicherten Mittelmäßigkeit ausbrechen und bewusst Gefahren aufsuchen, um endlich den Pulsschlag des Lebens zu spüren. Klassisch die Darstellung, die Ernst Jünger in seinem Kriegstagebuch In Stahlgewittern von der Begeisterung der Jugend am Anfang des Ersten Weltkriegs gegeben hat: »Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch. (...) Der Krieg musste es ja bringen, das Große, Starke, Feierliche.« 72 Zwei Jahre später pries Jünger in dem Essay Der Kampf als inneres Erlebnis das ekstatische Erlebnis der äußersten Gefahr noch einmal überschwänglich: »Die Ekstase, dieser Zustand des Heiligen, des Dichters und der großen Liebe ist auch dem großen Mut vergönnt. Da reißt Begeisterung die Männlichkeit so über sich hinaus, dass das Blut kochend gegen die Adern springt und glühend das Herz durchschäumt. Das ist ein Rausch über allen Räuschen, eine Entfesselung, die alle Bande sprengt. Es ist eine Raserei ohne Rücksicht und Grenzen, nur den Gewalten der Natur vergleichbar. Da ist der Mensch wie der brausende Sturm, das tosende Meer und der brüllende Donner. Da ist er verschmolzen in das All, er
rast den dunklen Toren des Todes zu wie ein Geschoß dem Ziel.« 73
     
    Was Jünger hier als die Seelenverfassung seiner Generation beschreibt, hatte Tomaso Marinetti schon über ein Jahrzehnt zuvor im Futuristischen Manifest ganz ähnlich formuliert: »Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen. (...) Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag.« Die Verachtung, mit der Marinetti und Jünger das bürgerliche Sicherheitsstreben behandeln, ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder als antibourgeoiser Gestus zutage getreten, in der künstlerischen Bohème, in den verschiedenen Jugendbewegungen, in der marxistisch inspirierten und in der konservativ-revolutionären Gesellschaftskritik. Selbst in Adornos und Horkheimers Polemik gegen das überbordende Sicherheitsbedürfnis als Ausfluss bürgerlichen Besitzdenkens in der Dialektik der Aufklärung scheint diese Haltung noch durch: das Streben nach Sicherheit als Ausdruck bürgerlicher Spießergesinnung und der mangelnden Vitalität einer dem Untergang geweihten Spätkultur.
     
    Freilich bedarf es nicht unbedingt gesellschaftskritischer Grundsätzlichkeit, um zu begreifen, dass in einer Gesellschaft der organisierten Sicherheit das gefahrvolle Abenteuer insbesondere für junge Menschen, aber nicht nur für sie, eine Faszination ausstrahlen kann. Ein solcher Ausbruch aus der geordneten, abgesicherten und ereignislosen »bürgerlichen« Welt ist in der Literatur vielfach als Akt der Befreiung beschrieben

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