Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
worden. Es wäre aber ein Irrtum, anzunehmen, dieses Phänomen sei erst in der bürgerlichen Epoche aufgetreten. Der spätmittelalterliche Ritter, der seine feste Burg verlässt, um in der Fremde Abenteuer zu erleben und Gefahren zu bestehen,
ist die klassische Gestalt des vom Timos geleiteten Helden, der bewusst gefahrvolle Abenteuer aufsucht und sich vor anderen durch Geschick und Tapferkeit auszuzeichnen trachtet. Und seine Aventiure steht ganz offensichtlich in einer noch älteren Tradition – der Tradition antiker Heldengestalten wie Herakles oder Odysseus. Belege für diesen timotischen Drang finden wir aber auch überall im Alltag unserer Gesellschaft. Wer robust genug ist, sucht die Herausforderung heute vielleicht in gefährlichen Sportarten, als Rennfahrer, beim Bungee-Jumping, beim Besteigen eines Achttausenders oder bei einem Überlebenstraining für Führungskräfte. Auch weniger harmlose Formen des Kräftemessens wie bei der Fan-Randale im Fußballstadion gehören in diesen Kontext.
Sich bewusst der Gefahr auszusetzen, gehört seit jeher zu den sich anbietenden Methoden, Langeweile, Minderwertigkeitsgefühle, aber auch Angst zu überwinden. Wem die damit verbundenen realen Gefahren zu riskant sind, der kann sich mit Hilfe von Abenteuerromanen, Horrorfilmen oder Computerspielen zumindest virtuellen Gefahren aussetzen. In gewisser Weise gehört es zur normalen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, dass sie irgendwann die ständigen Ermahnungen der Eltern, der Lehrer, vorsichtig zu sein und Gefahren möglichst zu meiden, in den Wind schlagen und das gefährliche Abenteuer suchen. Sofern sie dabei das Risiko halbwegs rational einzuschätzen wissen und tollkühne Aktionen vermeiden – oder diese zumindest glimpflich überstehen –, ist dies oft eine Erfahrung, die die Lebenstüchtigkeit erhöht, indem sie übermäßige Vorsicht und Ängstlichkeit abbaut und das Selbstvertrauen und die Fähigkeit zur Risikoakzeptanz steigert.
Kluge Eltern und kluge Lehrer werden deshalb auch nicht versuchen, Kinder und Jugendliche möglichst vor jedem Risiko zu bewahren. Denn auch das lehrt die Lebenserfahrung:
Wer allzu behütet aufwächst, wer nicht rechtzeitig lernt, Gefahren zu bestehen und Risiken zu ertragen, der wird entweder überängstlich und angesichts gefahrvoller Situationen, die im Laufe eines Lebens unvermeidlich auftreten, handlungsunfähig oder er stürzt sich irgendwann aus Überdruss an der eigenen ereignislosen und blutleeren Existenz Hals über Kopf in gefahrvolle Abenteuer, die für ihn und andere schreckliche Folgen haben, die Schmerz und Unglück, vielleicht gar den Tod bedeuten können.
Aber kehren wir noch einmal zu Ernst Jüngers Momentaufnahme des Ersten Weltkriegs zurück. War es wirklich nur die Langeweile einer durch und durch abgesicherten Existenz, die, wie uns Ernst Jünger glauben machen will, die jungen Männer im August 1914 scharenweise und in geradezu ekstatischer Begeisterung in den Krieg trieb? War, was sie in diesem Augenblick des Kriegsausbruchs als Erleichterung, als Erlösung erlebten, wirklich nichts anderes als die Erlösung von quälender Langeweile? Wenn man Lucian Hölschers sorgfältige Analysen protestantischer und sozialistischer Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich, also in der Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, liest, erhält man einen Begriff davon, wie stark revolutionäre und apokalyptische Naherwartungen viele Menschen in Deutschland am Ende des neunzehnten Jahrhunderts prägten. 74 Zwar legte sich die geradezu hysterische Anspannung im letzten Jahrzehnt vor dem Ausbruch des Krieges etwas, aber gelöst war sie nicht. Die apokalyptischen Erwartungen waren mitsamt den sie begleitenden Ängsten und Hoffnungen lediglich in den Untergrund gedrängt worden und wirkten dort, wie wir an zahlreichen Zeugnissen der vorexpressionistischen und expressionistischen Kunst und Literatur erkennen können, weiter, entluden sich in eruptiven Schreckensfantasien. Das,
was Jünger als Langeweile in einer total abgesicherten Situation wahrnimmt, wovon im Ernst bei der Mehrzahl der jungen Arbeiter und kleinen Angestellten ohnehin keine Rede sein kann, wird in vielen Fällen wohl eher das Gefühl einer unerträglichen, nach Auflösung schreienden Spannung gewesen sein, die schließlich in der Kriegsbegeisterung ein Ventil fand.
»Risiken werden«, schreibt Herfried Münkler, »überwiegend aus zwei Antrieben heraus eingegangen: Zum einen aus
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