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Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Titel: Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Bossong
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bereits getrunken, den von gestern und den von heute und den von morgen vermutlich auch. Immer ging alles zu schnell, das war, wie W.W. gesagt hatte, der Lauf der Dinge.
    Er schreckte hoch, mitten in der Nacht, oder war es schon Tag? Schwere Gardinen dunkelten das Zimmer fast vollständig ab. Die Angst, sich nicht mehr in seiner Umgebung zurechtzufinden. Die Angst, nicht mehr fortzukommen. Mit einem Mal kam ihm sein Aufenthalt in China verheerend lang vor. Zu lang. Länger als geplant. Er tastete auf dem Nachttisch nach dem Flugticket, betrachtete es im Licht des Funkweckers: Tatsächlich, es war für den vergangenen Tag ausgestellt. Die Reise mit Gustav hatte sein Zeitempfinden vollkommen durcheinandergebracht. Kurt ließ sich in die Kissen sinken, Rauschen in seinem Kopf, der ätzende Nachgeschmack des Tsintao-Biers im Mund, leichter Schwindel. Er schloss die Augen. Ein Mädchen tanzte vor ihm, er griff nach ihr, aber er griff daneben. Er sackte zurück in einen dumpfen Schlaf.

VI
     
    Bereits beim Betreten des Gebäudes habe er gewusst, dass Kurt aus China zurückgekehrt sei, hörte Luise ihren Onkel am Telefon sagen. Es war ein Oktobervormittag, eine Woche nach Kurts geplanter Rückkehr aus Schanghai und Luise stand vor dem Seminarraum, aus dem Werners Anruf sie herausgeklingelt hatte.
    Noch ehe der Lift ihn hinauf in den vierten Stock gebracht habe, sei er sicher gewesen, dass Kurts asiatisches Abtauchen ein Ende habe, sagte Werner. Er habe es gewittert. Das sei der Rest jenes Gespürs, das höher entwickelte Tiere irgendwann ablegten. Bei ihm habe sich ein Teil dieses archaischen Vermögens erhalten, er wolle nicht sagen, dass ihm das einen Vorteil verschaffe, sondern eben nur, dass Kurt zurückgekehrt sei. Im Übrigen, Luise, es wäre nett, wenn du umgehend vorbeikämst, seine Sekretärin wimmelt mich seit einer Stunde ab.
    Widerstrebend fuhr Luise in die Firma, ihr Vater sah es für gewöhnlich nicht gern, wenn sie sich dort herumtrieb, was selten genug vorkam. An diesem Tag aber schien es ihm gleichgültig, beim Betreten seines Büros hatte sie sogar gemeint, den Anflug eines Lächelns in seinem Gesicht zu bemerken. Kurts Gesicht glänzte von neugewonnenem Fett, das sich unter der Haut angesammelt hatte, er verlor wenige Worte über die Tage, die er zwischen der Longhua-Pagode und einer Shoppingmall im Lujiazui-Distrikt verbracht hatte. Er war gegen halb sechs in Düsseldorf gelandet, hatte sich vom Flughafen direkt ins Büro bringen lassen und war, den kleinen Reisekoffer in der Hand, umgehend in seinem Büro verschwunden.
    Und China?, fragte Luise.
    Ein ausgezeichnetes Land, sagte Kurt emotionslos. Sein Rücken gerade, sein Gesicht zum Fenster gewandt. Mit einem Stift kritzelte er auf einem Blatt Papier herum, notierte vielleicht etwas, ohne allerdings mit dem Blick den Linien unter seiner Hand zu folgen.
    Bitte, Luise, wenn du mich jetzt allein lassen könntest. Und halt deinen Onkel von mir fern, er soll mir wenigstens heute ein bisschen Ruhe gönnen. Ich habe acht Stunden hinter einem schreienden Säugling gesessen, ich bin erschöpft, und es gibt einiges zu erledigen.
    Nachdem Kurt um kurz nach elf seine Tochter aus dem Büro geworfen hatte, wurden gegen Mittag die Mitarbeiter des Betriebs über die Rückkehr des Chefs informiert. Die genauen Erfolge Kurts in China blieben unausgesprochen, spiegelten sich aber in den Gesichtern der Mitarbeiter wider: Einige waren sich einer Expansion sicher, sahen Gehaltserhöhungen und Fortbildungen voraus, andere fürchteten, durch hocheffiziente Hongkong-Chinesen ersetzt zu werden.
    Auf dem Flur wurde Luise wiederholt angehalten, zwei Mitarbeiter bedrängten sie mit Fragen, sie sollte Neuigkeiten bejahen oder wenigstens abstreiten, die sie selbst noch gar nicht in Erfahrung gebracht hatte. Sie sah das süßliche Gesicht einer Büroangestellten, ihren rosigen Ausschnitt, auf dem die Glieder einer vergoldeten Kette klebten. Selbst die grauen Stare, die seit Jahren blind durch den Betrieb flogen, und jene Murmeltiere, die in heimlich gebauten Höhlen in der Personalabteilung schliefen und sich nur, wenn es um ihre eigene Entlassung ging, aufbäumten, waren unruhig geworden. Ob es denn stimme, ob Herr Tietjen zurück sei. Mit Herrn Kettler, ganz unter uns, ist es doch immer ein wenig schwierig – Ihr Vater, Fräulein Tietjen, ist von anderer Statur, Ihr Vater, Fräulein Tietjen, ist ja für das Frotteegeschäft geboren. Ob er denn tatsächlich in Schanghai – ob man

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