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Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Titel: Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Bossong
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sechs von Gustav aus seinem Hotelzimmer geholt. Es war bereits hell, der Himmel weiß vom Smog. Aus dem Ruhrgebiet kannte er nur die graue Luft der sechziger Jahre, die Richtung Duisburg dunkler wurde. Hier hing ein Weiß, das alles zu verschlucken drohte und auf der Höhe des zwanzigsten Stockwerks die Dichte von Wolken annahm. Aus der Klimaanlage tropfte Wasser, aus den Abgasrohren der Autos tropfte Wasser, und auch von den Dächern tropfte es, es war ein Wasser, das Kurt nicht verstand, da es aus Geräten drang, von denen er bislang nicht einmal gewusst hatte, dass sie Wasser enthielten.
    Obwohl sich sein Begleiter sicher durch die mit wirr durcheinandergestreuten Linien beschrifteten Straßen bewegte, drehten sich die Menschen nach ihnen um, als trottete eine Herde blauer Elefanten an ihnen vorbei. Sie waren zu groß, zu klobig, zu europäisch, und Kurt schien es wenig wahrscheinlich, dass sie die Fabrik unauffällig besichtigen könnten. Vor dem Werkstor trafen sie einen jungen Mann im Anzug, der, wie sich herausstellte, zur Firmenleitung gehörte. Kaum hatte er sich vorgestellt, wusste Kurt nicht mehr, wie der Mann hieß.
    Sie wurden in die Fabrik eingeschleust, der zierliche Herr schien alles im Griff zu haben, vor allem die beiden Europäer, die ihm wie Gänsekücken hinterherliefen. Er erklärte ihnen in akzentfreiem Englisch die Abläufe in den einzelnen Räumen. Jeder Abteilung widmete er exakt vier Minuten, dann wurden sie weitergeschleust. Geschleust, geschleust, geschleust, dachte Kurt.
    Die Menschen trugen keine Nummern, aber sie waren zweifellos durchnummeriert, eine Menschennummernfabrik war es, die sie durchquerten. Die Konturen grell hervorgerissen, der Raum von gleißendem Licht ausgeleuchtet. Er sah Arbeiter, in einer Hunderterriege aufgestellt, auf Linie getrimmt, fleißig, unermüdlich, selbstvergessen. Jegliche Empfindung schien unter einem frisch fabrizierten Plastikplättchen begraben, sie kannten nur noch Klebekanten, Haarrisse, Oberflächenstrukturen. Kurt war beeindruckt. Er hatte nie so viel Gleichheit in einem einzigen Raum gesehen. Etwas Teilnahmsloses ging von all diesen Menschen aus. Etwas Unerschütterliches, dachte er. Kurt selbst hatte kein Gespür dafür, ihm war nie erlaubt gewesen, in der Menge abzutauchen. Der Wunsch überkam ihn, ein solches Display zu besitzen, das über die Tische der Arbeiter gereicht wurde, doch der zierliche Herr schleuste sie weiter, die vier Minuten waren um. Kurt tappte unwillig hinter seinem Begleiter her, sah sich noch einmal zu der grellen Szene um, suchte ein einzelnes Gesicht, doch er konnte keines aus der Masse herauslösen.
    Als sie eine gewaltige Stahltür zum zweiten Mal passierten und diese erneut für sie geschlossen blieb, fragte Kurt den Reiseleiter, was sich dahinter verbarg. Kurt bezweifelte, dass sie Zutritt bekommen würden, aber er wollte wenigstens eine Ausrede hören. Natürlich, antwortete der junge Mann höflich, könnten sie auch diesen Teil besichtigen.
    Durch die Tür gelangten sie ins Freie. Unter einem Busch sammelte eine alte Frau Nüsse auf. Von fern sahen sie die Wohnbaracken, deren Fenster mit Gittern versperrt waren, ob gegen das Eindringen von außen oder das Ausbrechen von innen, konnte Kurt nicht sagen. Die Gitter wurden als Wäschespinnen benutzt, Laken, Hemden, auch Unterhosen hingen an den Metallstreben und nahmen den Räumen das Licht. Eine junge Arbeiterin mit Sonnenschirm verließ eine der Baracken, rein und hell wie eine Gutsbesitzerin; es war, als trete sie geradewegs aus einer Zauberkugel heraus.
    Sie sprachen mit den Arbeitern, die Arbeiter sagten nichts, aber wie sie das taten, beeindruckte Kurt. Wie anmutige Automaten, dachte er. Alles funktionierte. Alles funktionierte reibungslos. Der junge Mann präsentierte ihnen Zahlen, die zehnmal größer waren als jene, die Kurt von seiner deutschen Konkurrenz kannte. Zum Abschied bekamen sie beide ein in der Fabrik produziertes, bierdeckelgroßes Display geschenkt, das leer vor sich hin strahlte, wenn man es einschaltete. Der junge Mann wirkte stolz, als er es ihnen überreichte.
    Nachdem sie die Fabrik besichtigt hatten, kehrte Kurt in sein Hotelzimmer zurück. Er spielte mit dem geschenkten Display herum, schaltete es zum wiederholten Mal aus und wieder ein, das Gerät flackerte kurz auf und blieb dann für immer dunkel.
     
    Er begriff nichts von diesem Land, jedenfalls war es das, was er selbst glaubte, als er von seiner Exkursion nach Schanghai zurückkam.

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