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Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)

Titel: Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Bossong
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eigentlicher Vorwurf. Was den Senior verbitterte, war, dass seinem Sohn der zweite Platz genügte. Dass er nicht die Verpflichtung ernst nahm, die ihm seine Stellung und der Wohlstand, in dem er aufwachsen durfte, abverlangten. Kurt junior tat sich in nichts hervor. Es war hoffnungslos. Der Wunsch, alles um sich herum kurz und klein zu schlagen, stieg in dem beherrschten Senior auf, wenn er seinen Sohn vor sich sah, diesen Tropf Wasser, geduckt und unentschlossen, als sei er zufällig auf der Welt. Ein Tietjen aber war nicht zufällig, ein Tietjen hatte zwingend zu sein.
     
    Fanny Weidmann war ein Zufall. Es war ein Zufall, dass sie war und wie sie war und dass sie hier war. Ein Zufall war es, woher sie kam, 54 Humboldt Street, Centralia, Pennsylvania, ein Zufall, dass sie in Kurt Tietjens Leben getreten war, ein Zufall, dass sie beide am gleichen Abend verloren und betrunken gewesen waren, so wie Fannys Eltern und Großeltern stets im entscheidenden Moment verloren und betrunken gewesen waren. Was das Entscheidende war, hatte stets der Zufall bestimmt, bei einer Familie wie den Weidmanns, dachte Kurt, einer Familie, wie es sie in Massen gab. Es war ein Zufall, dass sie sich wieder getroffen hatten, so viele Tage nach der gemeinsamen Hotelübernachtung, ein Zufall – nein, kein Zufall mehr, hier hatte bereits Kurt in die Handlung eingegegriffen, die Fäden in die Hand genommen, hier trat das Prinzip Tietjen auf den Plan, in dem nichts Zufall war, sondern alles Kalkül.
    Sie rekelte sich neben ihm auf einer Decke (Saunatuch Modell Schweden), die Kurt über den kahlen Boden des Apartments gebreitet hatte. Der Brief lag auf dem Schreibtisch. Wieder hatten sie eine Flasche Wein getrunken, einen Merlot, den Kurt in seinem Küchenschrank aufbewahrt hatte, für diese Gelegenheit, an die er nicht mehr geglaubt hatte, vernünftig, wie er war.
    Die verschmierten Konturen ihrer Lider, das billige Make-up, ihre dünnen Lippen. Sie war so schmal, als wagte sie nicht, Raum einzunehmen. Alles war leicht mit ihr gegangen, sie versuchte nicht einmal, einen eigenen Willen zu haben. Er hatte sie hereingebeten, sie war gefolgt. Er hatte sie plaziert, so wie er sich vorgestellt hatte, dass sie sitzen würde. Er spielte jenen Abend aus dem Hotelzimmer mit ihr nach, sie befolgte seine Anweisungen, nahm das Weinglas entgegen, rekelte sich auf der Decke, wich seiner Nähe nicht aus. Sie wirkte wie ein schutzloses Tier, das er aufpäppeln musste. Er zog sie an sich, schob sie fort, ließ sie von dem Wein trinken. Ihre Zuneigung mochte gespielt sein, das konnte er ertragen.
    Er forderte sie auf zu erzählen, von den Häkeldecken, zwischen denen sie aufgewachsen war. Fanny redete, wie sie im Hotel geredet hatte, ausufernd, rücksichtslos, unvorsichtig, und sie tat all dies auf seinen Wunsch hin. Ihre Mutter hatte eine Zigarette nach der anderen in eine Coladose hineingeascht, und über dem Sofa hatte das mit billigem Öl stümperhaft gemalte Porträt des Ahnherrn, ihres Großonkels Wilhelm, gehangen, der herübergekommen war, um die bessere Welt kennenzulernen.
    Nach und nach waren sie vor ihm geflohen, zuerst Willys Söhne, dann seine Frau, zuletzt seine Nichte, Fannys Mutter, mit dem Kind und dem Gemälde unterm Arm. Willy hatte das nicht erschüttert, er glaubte tief an einen flatterhaften Gott, der mal puritanisch, mal baptistisch war, und er ging jeden Sonntag zur Kirche. Unter der Woche verkaufte er Schmuck in einem Warenhaus in Downtown Manhattan, seine breiten Finger ruhten auf dem Glas, unter dem die Steine und Ringe lagen, und während die Damen mit ihren langen Händen die Schmuckstücke griffen, starb Willy jeden Tag ein wenig mehr, ertrug den Geruch der Klimaanlangen nicht, vergaß in die Kirche zu gehen. Nur nach Hause wollte er, aber dort fand er sich nicht mehr zurecht. Er zog sich Stück für Stück aus seiner Wohnung zurück, mied das Wohnzimmer, bald auch die Küche, richtete sich ein Zimmer ein, das er mit Decken (90 Prozent Acryl) und Konservendosen füllte, und eines Montags verriegelte er die Tür und ließ den Schlüssel durch den Schlitz in den Lichtschacht fallen. In der ersten Woche klingelte noch das Telefon, in der zweiten saß bereits ein anderer auf seinem Arbeitsplatz.
    Fanny lag flach auf dem Saunatuch, blickte an die Decke, Kurt wagte nicht, sie zu berühren.
    Woher ihr Großonkel gekommen sei, fragte er.
    Europa, sagte sie bestimmt, als sei das eine überaus präzise Ortsangabe. Und er? Ob er aus Deutschland

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