Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)
Schnee, kalt jedenfalls und feucht war es, und wenn er in seiner Vorstellung vom Hügel aus auf die Stadt hinuntersah, die nur noch an ihrem Rand einige Zechen aufwies, dann fragte er sich, wie man sich so etwas wie Essen überhaupt hatte ausdenken können. Oder Manchester. Oder Pittsburgh. Er musste an Essen denken, aber nicht oft und nie lange.
Fanny Weidmann hatte den Raum betreten und sich unschlüssig dem Küchentresen genähert, doch Kurt übersah sie. Er war in Essen. Er war in Wessners verchromtem Büro, die Sekretärin hatte gerade eine Flasche Tafelwasser gebracht (Apollinaris 0,2 l) und ein Glas. Wessner kam aus dem Nebenraum herein, in den er sich, das Telefon am Ohr, zurückgezogen hatte.
Ich weiß nicht, mit was Werner zu seinem Anwalt gegangen ist. Ich weiß nicht, was sich wirklich bei euch in der Firma abspielt. Kurt, versteh mich nicht falsch, aber hier geht es nicht um Eitelkeiten. Wenn er Grund hat – ich meine, Kurt, Betrug ist in deinem Fall – lass es mich so formulieren: Hat Werner etwas in der Hand gegen dich?
Ich weiß doch auch nicht, was er seinem Anwalt erzählt hat, erklärte Kurt trotzig. Wessner hatte auf seiner Seite zu stehen. Sie kannten sich seit der Studienzeit, Wessner hatte des Öfteren in Kurts Haus gewohnt, hatte von Kurts Namen profitiert, ja, auch von Kurts Geld, sie waren in gewisser Hinsicht befreundet.
Ist eine Insolvenz wahrscheinlich?, fragte Wessner und steckte endlich das Telefon in die Brusttasche seines Jacketts.
Kurt Tietjen antwortete nicht.
Kurt, wenn ich dir bei dieser Angelegenheit helfen soll, muss ich eines wissen: Ist eine Insolvenz noch abzuwenden?
Wir gehen nicht in die Insolvenz, antwortete Kurt.
Weil ihr nicht müsst? Oder weil du nicht willst?
Was soll diese Frage, entgegnete Kurt und sah seinen Studienfreund an, das zum Kinn hin spitz zulaufende Gesicht, ein Pferdegesicht. Wessner hatte Karriere gemacht, obwohl andere besser, weit besser gewesen waren als er, und er schämte sich nicht dafür, nahm es als selbstverständlich hin, und Kurt beneidete ihn um diese Arroganz, die es brauchte, um über den Dingen zu stehen.
Kurts Großvater Justus hatte sie besessen, er war ein stures, unbesiegbares Fossil gewesen. Über dem Schreibtisch hatte er ein in Öl gefasstes Bild von sich hängen, ein Porträt des Firmengründers aus dem Jahr 1914, das kurz nach Abschluss des Exklusivvertrags mit dem kaiserlichen Heer angefertigt worden war und ihn in nüchterner Herrscherpose zeigte, halb Monarch, halb Beamter. An der anderen Wand hing ein Familienbild, seine beiden Söhne, blass und zaghaft mit dem Pinsel ins Öl gesetzt, seine stets hochdekorierte Ehefrau in einem cremefarbenen Kleid, ein Panzer aus Tüll und Blüten, er selbst, gelassen und erhobenen Hauptes in der Mitte der Szenerie. An der anderen Wand zwei Porträts seiner Söhne, Karl auf dem Rücken eines kastanienbraunen Pferdes und Kurt, der einen Schimmel an den Zügeln führte. Die Motive hatte Justus Tietjen bei den Hügelianern abgeschaut. Tietjen war Krupp mit menschlichem Antlitz, so jedenfalls sah es Justus. Er war der weiche Krupp. Von seinem Thron im Chefbüro aus regierte er die Firma wie ein Weltreich.
Das Bewusstsein von Einzigartigkeit hatte er an seinen Sohn weitergegeben. Für Kurt senior war keiner gut genug. Vor ihm konnte niemand bestehen. Doch das Gefühl der Größe, das sein Vater Justus ihm beigebracht hatte, war mit den Jahren für Kurt senior zu einem stetig wachsenden Vakuum geworden. Er verglich die Realitäten des Frotteekonzerns mit denen des Familienmythos. Der Name Tietjen war, wie er feststellen musste, deutlich weniger wert, als man es ihm eingeredet hatte. Früher schien die Firma genügend Gravitation zu besitzen, um das gesamte Universum an sich zu ziehen. Jetzt blickte er über das, was tatsächlich da war, ein Frotteeunternehmen in Essen, das ungefähr zweihundert Mitarbeiter beschäftigte. Kurt senior war nicht wahnsinnig genug, den Konzern zu der Größe ausbauen zu wollen, die er in der Vorstellung seines Vaters besessen hatte. Der Senior war weder wahnsinnig noch phantasiebegabt, er setzte auf Genauigkeit, alles um ihn herum war berechnet, er war das, was man einen calvinistischen Kaufmann nannte, ein wortkarger, sparsamer Mann, der nicht träumte, weil Träume keinen Profit abwarfen.
Seinen Sohn behandelte er mit einer Mischung aus Geiz und Perfektion. Dass Kurt nicht gut genug war, hatte der Senior schon früh bemerkt, aber das war nicht sein
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