Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)
aussehen und ob es überhaupt echte Trümpfe sind.
Alles in Ordnung?
Die Stewardess beugte sich zu Luise hinab, ihr Niveagesicht sah besorgt aus. Nie war Luise auf Flügen übel geworden, sie kannte keine Angstzustände, weder beim Start noch bei der Landung, wenn die Räder auf der Bahn aufkamen, die Bremskraft die Passagiere nach vorne stieß –
Everything OK, Miss?
Es musste am Essen gelegen haben, Hühnchen in einer zähweißen Soße, mit zu viel Salz und fast ohne Geschmack.
Krays hatte sie gewarnt: Bestell dir ein Sonderessen, egal was. Koscher ist meistens passabel. Sie hatte sich kein koscheres Essen bestellt, sie war nicht religiös, es stand ihr nicht zu.
Kurt hatte sie bestellt. Er hatte sie mitten in der Nacht angerufen, in New York war es früher Abend. Krays hatte nicht neben Luise im Bett gelegen, freitags ging er meist mit Freunden aus, in einen Club nahe der Autobahn. Sie war eingeschlafen, während sie auf ihn gewartet hatte, ein Plaid um ihre Beine gewickelt, aus dem sie sich kaum befreien konnte, als sie aufstand, um das Telefon abzuheben. Am anderen Ende der Leitung sagte jemand: Wir treffen uns an der 42. Straße, Ecke Seventh Avenue, ich habe ein Zimmer für dich reserviert. Sie dachte, es sei Krays. Nun war er übergeschnappt, dachte sie. Wo bist du?, rief sie in den Hörer.
New York. Ich bin in New York, wo sonst. Ich habe ein Zimmer für dich reserviert, du kommst am Mittwoch um halb drei in Newark an.
Da begriff sie, dass es ihr Vater war, begriff, dass sie ihn zum ersten Mal angeschrien hatte.
Mittwoch halb drei, wiederholte Luise.
Sie nahm es hin, wie es war: Er bestimmte, was die Familie zu tun hatte, so war es schon immer gewesen. Sie fragte nicht, was er von ihr wollte. Sie fragte es nicht einmal sich selbst.
Krays hatte sie gewarnt: Flieg nicht nach New York, was willst du da?
Dass ihr Vater den Ort ausgesucht hatte, nicht sie.
Dann such dir einen anderen Vater aus, hatte Krays erwidert.
Er hatte sie gewarnt: Erwarte nichts von dieser Reise. Erwarte nichts von deinem Vater. Sei ehrlich, wenn es ihm um die Firma ginge, hätte er nicht dich bestellt. Sei ehrlich, um die Familie ist es ihm nie gegangen. Sei ehrlich, er weiß doch nicht einmal, wie du genau aussiehst.
Newark: Blauer Himmel bei 24 Grad. Aus dem Cockpit kam die Meldung, sie seien nur noch dreißig Minuten von ihrem Zielort entfernt. Die Stewardess stöckelte erneut auf Luise zu, reichte ihr ein heißes Tuch und ein Glas Wasser, die Übelkeit hatte inzwischen nachgelassen, war einem anderen Gefühl gewichen, einer drückenden Unruhe, einem Flackern im Kopf, als säße sie mitten unter den Leuchtreklamen auf dem Times Square.
Ausgerechnet nach New York, wo man nie gut genug sein konnte, hatte ihr Vater sich aufgemacht, wie ein störrisches Kind, das von zu Hause ausgebüxt war. Sie würde ihn abholen. Sie würde ihn mit nach Hause nehmen. Und wenn nicht ihn, dann seine Unterschrift. Luise konnte ihn nicht retten, das hatte sie auch nicht vor. Sie wollte die Firma vor seinen Übergriffen schützen. Das Flugzeug ging in den Sinkflug, sie wandte ihr Gesicht zum Fenster.
Dass das ihr Vater war –
Sie hatte ihn zunächst nicht erkannt, war mehrere Minuten unruhig und zunehmend angriffslustig auf und ab gegangen, Broadway, Ecke 42nd Street, vor den Macy’s-Schaufenstern, in denen Dutzende von elektrischen Plüschaffen immer wieder die gleichen Bewegungen ausführten, Radschläge, Klatschen, Drehen im Kreis, früher hätte sie das begeistert. Im Fenster nebenan waren Badartikel ausgestellt, Seifen, Lotionen, Handtücher, Kosmetikspiegel. Ein Stillleben von Rauschenberg.
Aus dem U-Bahn-Schacht strömten Menschen mit zurechtgemachten Gesichtern, der Himmel klebte klar und blau im schmalen Schacht über ihnen. Lärm drang in Luises Kopf, aufbrausende, abflauende Automotoren, Sirenen, Rufe, Jingle-Musik. New York war größer geworden, härter.
Früher war ihr die Stadt in kleinen Portionen verabreicht worden. Nachdem sie bei Bekannten ihrer Eltern in der Upper West mit Apfelkuchen (echt deutsch)abgefüttert worden war, hatte sie träge vor Sattheit im Fond eines Taxis gelungert, sieh mal, der Hudson, war in den Galerien des westlichen Manhattans hinter ihrer Mutter hergerannt, die alles kaufen wollte, durch die Hallen des MoMA und in die Schraube des Guggenheim-Museums hinein. Alle zwei Jahre in den Herbstferien spielten sich diese Szenen ab und jedes Mal endete die Reise damit, dass Kurt Tietjen Luise
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