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Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition)

Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition)

Titel: Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristen Simmons
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mir verwandelte sich Chase. Seine Miene wurde düster, sein Blick einschüchternd. Als wir uns in Bewegung setzten, war ich bei jedem seiner zielstrebigen Schritte gezwungen, mich zu beeilen, um ihn nicht zu verlieren, während ich, den Blick gesenkt, einen guten Meter hinter ihm ging, weil eine Frau niemals Seite an Seite mit einem Soldaten einherschritt.
    Als wir die Ecke erreichten, setzte leichter Regen ein. Die Wolken schienen noch tiefer zu hängen, und der Regen bedeckte meine Unterarme und meinen Nacken mit einer prickelnden Nässeschicht, unter der sich meine Haut kratzig und irgendwie fremd anfühlte. Ohne zu zögern, bogen wir in eine feuchtkalte Gasse mit umgestoßenen Mülltonnen und streunenden Tieren ein. Beinahe wäre ich über den Fuß eines Mannes gestolpert, der unter einem plattgedrückten Karton hervorragte. Bei jedem Laut – dem Flattern von Taubenschwingen, einem Klappern aus einem Müllcontainer – schlug mir das Herz bis zum Hals. Mein Blick schweifte umher, doch niemand schien uns zu sehen. Was gut war. Vorerst.
    Endlich mündete die Gasse in eine Straße, die dem Stadtplatz von Knoxville schräg gegenüber lag. Zwei Soldaten hatten am Eingang zum Platz Position bezogen, wurden aber von den Worten RETTE UNS, SNIPER abgelenkt, die jemand mit Sprühfarbe auf die Fassade eines leer stehenden Ladens geschrieben hatte. Erstaunt über das Gefühl von Anerkennung, das der Anblick in mir auslöste, gaffte ich den Schriftzug aus großen Augen an, ehe ich den Blick wieder auf den Boden richtete.
    Hastig zogen wir weiter. Die Soldaten drehten sich nicht einmal um.
    Ich tappte um abbruchreife Gebäude herum und bemühte mich nach Kräften, den Chor des Stöhnens und Wimmerns auszublenden, der aus den formlosen Haufen zerfetzter Kleidung überall zwischen den roten Ziegelsteinen ertönte. Obdachlose Zivilisten, Immigranten aus den zerstörten Städten, die auf der Suche nach Hilfe oder Erbarmen hergekommen waren. In dem böigen Wind kauerten sie sich zusammen, um Energie zu sparen. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, hatte Sean einen Aufstand angezettelt, aber jetzt war es hier so still und trist wie bei einer Beerdigung. Nun, da die MM die Rationen zurückhielt, gab es, vom Verhungern abgesehen, wenig zu tun.
    Ich warf einen Blick zurück, aber die Soldaten folgten uns nicht. Wir passierten aufgegebene Geschäfte, in denen sich Obdachlose eingenistet hatten, und das große Schild über einem leeren Laden mit der Aufschrift PFLICHTGOTTESDIENST SIEBEN UHR ABENDS , und ich dachte an die Kirche, in die ich meine Mutter gescheucht hatte, nachdem wir einen Strafbefehl nach Artikel 1 erhalten hatten, weil wir es versäumt hatten, unserer nationalreligiösen Pflicht nachzukommen. Während ich dem Protokollführer der Kirche unsere Namen genannt hatte, hatte meine Mutter Kekse vom Begrüßungstisch gestohlen.
    Vor Chase machten die Leute den Weg frei; niemand sah uns zweimal an.
    Den Blick auf Chase’ Fersen geheftet, folgte ich ihm nach links. Vor mir auf dem Gehsteig drängelte sich eine Gruppe Leute um eine Regentonne und schöpfte die schmutzige Brühe mit einer rostigen Blechdose, die an einer Metallkette hing. Die meisten wiesen Merkmale der Mangelernährung auf. Hohle Wangen, aschfahle Haut. Dagegen wirkten ihre Körper beinahe aufgeblasen dank der vielen Kleidungsschichten. Vertrauen war dieser Tage ein rares Gut; alles, was man nicht ständig unter Kontrolle hatte – und folglich am Leibe trug –, war leichte Beute.
    Ein Kerl, der nur noch aus Haut und Knochen bestand, löste sich aus der Gruppe und kam auf mich zu. Eingesunkene Augen wanderten hungrig über meine Tarnung. Unter seinem löchrigen Pullover lugte das Sommerkleid eines Mädchens hervor, und für einen Moment kamen mir die Statuten in den Sinn, die man mir in der Reformschule eingehämmert hatte. Kleidung zu tragen, die dem eigenen Geschlecht nicht angemessen war, konnte als Verstoß gegen Artikel 7 gewertet werden.
    Innerlich bereitete ich mich darauf vor, enttarnt zu werden, ergriffen von der endlosen Furcht, dass die Enthüllung nicht unseren Vorstellungen gemäß stattfinden würde.
    »Haben Sie etwas zu essen, Schwester? Ist schon zwei Tage her …«
    Er wusste nicht, wer ich war, und ich ertappte mich dabei, nicht nur erleichtert, sondern auch ein wenig enttäuscht zu sein.
    Als meine Eskorte sich umdrehte, zog der Mann den Kopf ein und huschte zurück in die Anonymität der provisorischen Zufluchten. Ich wischte mir die

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