Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition)
vor und ergriff mein Gesicht. Sein Daumen strich sanft über meine feuchte Wange. Mein Blick sank herab zu seiner goldenen Namensplakette, auf der in perfekten schwarzen Buchstaben der Name MORRIS prangte.
Ich kenne dich. Ich hätte Angst haben sollen, aber ich war so gebannt von der Berührung, dass ich gar nicht merkte, wie sich seine Finger um meine Kehle schlossen, bis es zu spät war.
Ich erwachte wie der Blitz, keuchend, mich windend, herausgerissen aus dem Albtraum von einer Hand, die sich um mein Fußgelenk schloss und eine neue Woge der Panik hervorbrachte. Die dünne, zerrissene Decke spannte sich um meine Taille. Ich rutschte zurück, bis mein Kopf an die Wand knallte und ich Sterne sah.
»Ember.« Chase’ vertraute Stimme lockte mich, aus der Deckung zu kommen. »Ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung. Es war nur ein Traum.«
Ein Traum? Darauf konnte ich nicht vertrauen. Immer noch spürte ich den Druck, der mich an Ort und Stelle festhielt. Und ich fühlte die Stimme in meinem Inneren, die meine Zunge gegen die Zähne drückte und zu einem Schrei ansetzte.
Das war der letzte Laut, den ich gehört hatte, bevor sich Tucker Morris’ Finger um meinen Hals geschlossen hatten.
Nun saß ich an der oberen Ecke meines Betts, die Knie fest an die Brust gezogen. Ohne eine brennende Kerze konnte ich nur einen minimalen Unterschied in dem schattigen Dunkel an der Stelle erkennen, an der Chase am anderen Ende der Matratze saß.
Er schaltete die Taschenlampe ein und legte sie wie eine Friedensgabe neben meine Füße. In ihrem Licht konnte ich den ganzen Raum klar erkennen. Die knotige, kahle Matratze und den alten Sessel, in dem er schlief. Unsere Schuhe und der Rucksack, die neben der Tür bereitstanden. Die bröckelnde Trockenmauer.
Morgen würde ich zum ersten Mal seit einem Monat zur Vordertür hinausgehen, und ich würde möglicherweise nicht zurückkehren.
»Angst zu haben ist in Ordnung.« Es war, als hätte er meine Gedanken gelesen.
»Ich habe keine Angst«, log ich, ohne zu wissen, warum.
»Schon gut«, sagte er gedehnt. »Ich sage ja nur, dass es in Ordnung wäre, solltest du Angst haben.«
Ich legte das Kinn auf die Knie und sehnte mich nach der Vertrautheit meines eigenen Betts. Nach dem schmeichelnden Gefühl meiner eigenen Laken, dem perfekten Gewicht meiner eigenen Decke. Ich vermisste mein Zuhause.
»Warum hat er mich verraten, dich aber nicht?«, flüsterte ich.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete er seufzend. »Aber er hätte es nicht getan, wenn es nicht in irgendeiner Weise zu seinem Vorteil gewesen wäre. Mich wundert nur, dass er sich damit so viel Zeit gelassen hat.«
Es war schon sonderbar, dass jemand einen ganzen Monat auf solch einer Information hockte, ehe er den Mund aufmachte.
»Wie sollte es zu seinem Vorteil sein, zu beichten, dass ich während seiner Schicht geflohen bin?«, überlegte ich laut. Vielleicht hatte jemand anderes herausgefunden, was passiert war, und Tucker unter Druck gesetzt. Meine Gedanken huschten zu der Zivilistin, die in der Haftanstalt arbeitete – Delilah. Sie war die einzige andere Person, die wusste, dass wir verschwunden waren, aber ich bezweifelte, dass sie etwas hatte durchsickern lassen. Sie hatte viel zu viel Angst vor Tucker, um irgendetwas zu sagen, was ihn hätte in Schwierigkeiten bringen können, wie zum Beispiel, dass wir während seiner Schicht entkommen waren.
Chase schüttelte den Kopf. »Ich werde daraus nicht schlau.«
Wir schwiegen, lauschten den Sirenen, die verrieten, dass irgendwo in der Innenstadt Leute zusammengetrieben wurden, die die Ausgangssperre missachtet hatten, und dem derben Gelächter, das plötzlich in einem Raum am Ende des Gangs laut wurde. Als Chase sich bewegte, erinnerte mich das leise Rascheln von Stoff an das letzte Mal, als wir allein im Dunkeln gewesen waren, und an die Distanz, die seither zwischen uns herrschte. Gepeinigt fragte ich mich, ob er jetzt zu seinem Sessel zurückgehen oder womöglich den Raum verlassen würde, aber stattdessen glitt er mit dem ganzen Körper auf das Bett und sah mich an, und das Weiß seiner Augen erglühte im Licht der Taschenlampe.
»Ich kenne da eine Geschichte«, sagte er mit vage unsicherer Stimme. »Die hilft mir manchmal beim Einschlafen.«
Ich nickte ihm aufmunternd zu.
»Gut«, fing er an und rückte noch näher. »Ich war …«
»Es war einmal«, soufflierte ich. Er senkte den Blick und zupfte lächelnd an den Fäden herum, die am Ende seines Hosenbeins
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