Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition)
schweißnassen Hände an meinem Faltenrock ab und quetschte einen Finger hinter den engen Kragen der hochgeschlossenen Bluse.
»Nicht jetzt«, sagte Chase kaum hörbar und deutete mit einem Nicken auf eine Einheit Soldaten vor einem geräumten Bereich, der mit gelbem Absperrband abgeriegelt war. Der Betonboden innerhalb der Absperrung war voller roter und schwarzer Flecken. Der Tisch, an dem die Soldaten die neuen Rekruten geworben hatten, war in der Mitte durchgebrochen und mit einer klebrigen, dunkelroten Masse bedeckt, die Staub und Laub anzog. Die MM hatte ihn ungeachtet dessen, was passiert war, dort gelassen, als wollten sie die Zivilisten geradezu herausfordern, dreist den Tod eines Soldaten zu feiern.
Dahinter, an der Seite eines Gebäudes, erkannte ich eine Gruppe von drei Linien in dem gleichen Neongrün, mit dem das RETTE UNS, SNIPER geschrieben worden war.
Weiter hinten auf dem Platz läutete eine Glocke, und ich erschrak. Obwohl die meisten Leute ihr Frühstück längst abgeschrieben hatten, schien es doch noch ein paar Rationen zu geben. Mit neuer Kraft sprangen die Hungernden aus den Ruinen und rannten wie verrückt zur Suppenküche.
Ich wich einer heranrasenden Familie aus und hielt auf einen silberfarbenen Bus in der entgegengesetzten Richtung zu, in dem Freiwillige im Austausch gegen Essensmarken Blut spenden konnten. Er stand quer zwischen zwei Gebäuden und kennzeichnete die Zufahrt zur Zeltstadt, genau, wie Sean gesagt hatte. Ein Schild mit der Aufschrift GESCHLOSSEN hing so tief an dem Fahrzeug, dass viele die Gelegenheit genutzt hatten, es zu bespucken.
Wir gingen an dem Bus entlang zu einem großen Müllcontainer, der überquoll von den Abfällen, die für die Menschen auf ihrer Suche nach Obdach und Wärme keinen Nutzen mehr hatten: Glasscherben, feuchtes Papier und Lebensmittel, die zu verdorben waren, um sie noch zu essen. Der Müll roch ranzig wie Moder und Erbrochenes. Unwillkürlich rümpfte ich die Nase.
Verborgen in einer Nische zwischen dem Bus, dem Gebäude und dem Müllcontainer lag der Treffpunkt, und ein rascher Blick verriet, dass wir als Erste eingetroffen waren.
»Sean müsste eigentlich schon hier sein.« Ungeduldig klapperte ich mit den Absätzen. Chase’ Miene verfinsterte sich, und ich folgte seinem Blick zu einem Busfenster, an dem fünf Bilder klebten.
John Naser, alias John Wright. Robert Firth. Dr. Aiden Dewitt. Patel Cho.
Ember Miller. Und unter meinem Bild stand in Fettschrift: ARTIKEL 5.
Ich fühlte einen Druck auf der Brust, der mir den Atem raubte, als würde eine riesige Faust meine Lunge zusammenpressen. Zu wissen, dass das Bild existierte, war eine Sache, es selbst zu sehen eine andere. Ein Teil von mir wollte es einfach abreißen, verbrennen, aber das durfte ich nicht, denn das war der einzige Grund, warum wir hier waren.
Eine Bewegung am Ende des Busses holte mich zurück in die Gegenwart. Chase und ich drehten uns in der Erwartung, den Rest unseres Teams dort vorzufinden, ruckartig um.
»Äh, Schwester?«, kiekste eine leise Stimme.
Sie gehörte einer kleinen, pummeligen Frau, höchstens zwanzig Jahre alt, deren Gesicht eine fahle Kraterlandschaft war, die an die Mondoberfläche erinnerte. Ihre Augen waren rund, und sie bedeckte ihren Mund mit beiden Händen. Mein Bauch krampfte sich zusammen, als ich erkannte, dass sie die gleiche marineblaue Uniform trug wie ich.
Wir wollten von einigen Leuten gesehen werden, aber nicht von denen, die für die MM arbeiteten.
Chase’ Hand ruhte auf seiner Waffe, während er an ihr vorbei nach Soldaten Ausschau hielt. Der Blick der Schwester wanderte von mir zu ihm und wieder zu mir. Sie kennt unsere Gesichter, dachte ich, aber dann fiel mir ein, dass sie mich Schwester genannt hatte. Sie hatte die Fahndungsfotos von uns nie gesehen. Beinahe hätte ich gelacht, als mir klar wurde, was in ihrem Kopf vorgehen musste: ein FBR -Soldat und eine Schwester, die sich an ein menschenleeres Plätzchen schleichen wollten. Gar nicht gut.
Uns blieb keine Zeit, uns eine Strategie zu überlegen. Wir mussten handeln, ehe sie es tat. Sean war Minuten hinter uns, und sollte diese Schwester ihre Freunde herbeirufen, blieben uns nur noch wenige Augenblicke, bis die Soldaten hier wären.
Mit einem flüchtigen Blick auf Chase huschte ich zu ihr und achtete darauf, dass mein zotteliges schwarzes Haar mir so weit wie möglich über das Gesicht fiel.
»Gehen Sie zur Suppenküche?«, stammelte sie.
»Ja«, sagte ich und bemühte
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