Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition)
mitbringen wollten. Und dann waren wir draußen auf der Straße im kalten Licht des Morgens, schutzlos jedem Gegner ausgeliefert, ausgestoßen aus dem einzigen Ort, der sich seit einer langen Zeit wie ein Zuhause angefühlt hatte.
K APITEL
8
Kurz vor Mittag erreichten Chase und ich das Rotkreuzlager. Eine andere Möglichkeit hatten wir nicht. Der sicherste Ort für uns war eine Menschenmenge. Die größte Menschenmenge sammelte sich auf dem Platz, aber wir hatten nicht die Absicht, das Risiko einzugehen, diesen Ort erneut aufzusuchen.
Vor dem großen, schmiedeeisernen Tor zum World’s Fair Park, dem Gelände, auf dem das Lager war, überquerten wir die Cumberland Avenue. Hoch über dem weißen, mit blauen Planen geflickten Zirkuszelt hing eine gewaltige, kupferfarbene Kugel – die Sunsphere, von der Billy mir erzählt hatte, dass sie für die Weltausstellung Anfang der Achtziger erbaut worden war. Inzwischen fehlte die Hälfte der Füllungen, und sie diente als Kennzeichen für eine Einrichtung zur vorübergehenden Unterstützung Notleidender – aber nicht mehr unter der Leitung des Roten Kreuzes, das war schon im Krieg untergegangen, sondern unter der der Heilsschwestern.
Chase winkte mich zu einer langen Schlange, und ich folgte ihm, immer noch in einem Schockzustand gefangen, erschüttert über die jüngste Begegnung mit dem Mörder meiner Mutter. Und darüber, dass ich ihn wieder hatte entkommen lassen.
Welche Lügen hatte Sean zu hören bekommen? Tucker hatte ihm lediglich erzählt, dass Rebecca sehr kurze Zeit in einer der Arrestzellen gewesen war, ehe man sie nach Chicago gebracht hatte. Aber was, wenn er ihr begegnet war? Was hätte er ihr wohl angetan?
Und wie konnte Wallace so dumm sein? Immer hatte er sein Zuhause, seine Familie allem vorangestellt … und doch ließ er zu, dass die gefährlichste Person, die mir je begegnet war, seine Abwehr unterwanderte.
Ich ermahnte mich, nicht länger darüber nachzudenken. Er hatte uns rausgeworfen, und das war’s. Akzeptieren. Weiterziehen. Vergessen. Außerdem hatten wir so oder so nicht vorgehabt, ewig dortzubleiben. Wir mussten lediglich eine Möglichkeit finden, Sean zu treffen und herauszubekommen, welchen hinterhältigen Plan Tucker sich ausgedacht hatte.
Plötzlich blieb Chase stehen und packte meinen Ellbogen. Gleich darauf zerrte er mich in eine Horde von Leuten, die darauf warteten, dass das Lazarett öffnete.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Soldaten.« Sofort war ich in Gedanken wieder bei Tucker, aber nein, Tucker war nicht hier. Er war beim Widerstand.
Chase machte vor uns den Weg frei, nicht gewaltsam genug, Streit zu provozieren, aber dennoch zielstrebig. Ich heftete den Blick auf seine Fersen und hüpfte mehr oder weniger hinterher, um ihm nicht in die Hacken zu treten. Als ich mich kurz über die Schulter umblickte, sah ich, dass überall auf dem Gelände Soldaten ausschwärmten.
Auf der anderen Straßenseite, genau da, wo wir fünf Minuten zuvor noch gestanden hatten, nahm eine andere Patrouille gerade die dicht gedrängten Gruppen der Obdachlosen auseinander. Ein Offizier hatte ein Klemmbrett dabei und zeigte einem greisenhaften alten Mann, der sich an ein halb eingestürztes Wartehäuschen lehnte, einige Fotos. Und auf jedem Dach streifte ein Soldat mit einem Gewehr umher.
In irgendeiner dunklen Gasse wären wir sicherer gewesen.
»Komm«, sagte Chase, »wir müssen in Bewegung bleiben. Gehen wir rein; hier draußen sind inzwischen schon zu wenig Leute um uns herum.«
Das Rotkreuzlager verfügte über hundert Pritschen, aufgebaut in gleichmäßigen Reihen und bedeckt von durchhängenden Segeltuchbahnen. Es gab keine Wände, keine Privatsphäre, keine Heizung im Winter, keine Ventilatoren im Sommer. Maschendrahtzaun, lückenhaft genug, dass ein Dieb sich mühelos hindurchzwängen konnte, umgab die einzelnen Abteile. Am Empfang gleich am Eingang saß eine Heilsschwester, und hinter ihr hing an einem Metallpfosten ein Schild mit der Aufschrift: HÖCHSTAUFENTHALTSDAUER 4 STUNDEN .
Gleich darunter hingen fünf Fotos an einem Sperrholzbrett. Fotos der fünf Verdächtigen, die in Verbindung mit den Heckenschützenmorden gesucht wurden.
»Chase«, flüsterte ich, und er musterte sie blinzelnd aus der Entfernung.
Dennoch ging er weiter zum Eingang, wo eine Reihe von ungefähr zwanzig Leuten darauf wartete, für vier Stunden eine Pritsche zu bekommen. Eine warnende Stimme in meinem Inneren schrie, dass das ein Fehler war. Wir
Weitere Kostenlose Bücher