Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition)
konnten nicht reingehen und uns den Blicken im Inneren aussetzen. Jemand würde mich erkennen.
»Bleib in der Schlange«, sagte er und ging direkt zu dem Empfangstisch, und ich sah, wie er rasch einen Blick auf die Tafel warf und den Rücken durchdrückte. Das reichte mir, um zu wissen, dass er mein Foto dort entdeckt hatte. Er beugte sich vor, um mit der Schwester am Tisch zu sprechen, die einen weißen Mundschutz aus Papier trug.
Die Schlange bewegte sich voran. Mein Blick fiel auf eine Frau, die gleich vor der Tafel stand. Über dem grünen Kragen ihres Hemds wirkte ihre Haut aschfahl, und der lange Baumwollrock war überall dort schwarz, wo die Säume durch den Schmutz gezogen worden waren. Obwohl sie wahrscheinlich erst Anfang dreißig war, war ihr Haar beinahe vollkommen ergraut. Zwei Soldaten, jünger als sie, flankierten sie zu beiden Seiten.
»Zuhören!«, brüllte einer von ihnen, und ich prallte gegen einen anderen Wartenden, als ich unwillkürlich zurückschrak. Momentan ging ich einfach in der Menge unter, aber dabei würde es nicht lange bleiben. Ich starrte Chase’ Rücken an und beschwor ihn im Stillen, zurückzukommen.
Die Frau trat zur Seite und gab den Blick auf einen ungefähr fünfjährigen Jungen frei. Seine Wangen waren gerötet, was an einer langen Zeit des Weinens zu liegen schien. Die Finger einer Hand hatte er in das räudige, schulterlange Haar gekrallt. Die andere Hand fehlte.
Die Frau ging zu dem Jungen und öffnete sein Hemd. Seine Haut war vernarbt und entstellt von alten Brandwunden, gerötet von einer Entzündung. Sie hob ihn hoch, damit jeder ihn sehen konnte.
»Oh Gott«, keuchte ich, ehe ich mich wieder in den Griff bekam. Dann kam Chase mit ungerührter Miene zurück zu mir.
»Hier.« Er hielt eine Atemschutzmaske in der Hand, wie die Schwestern sie trugen. Hastig schlang ich die Gummibänder über meine Ohren und fühlte, wie mein warmer Atem den Hohlraum über Nase und Mund füllte. Dieser Schutzschild würde meine Identität zumindest für eine Weile verschleiern können.
»Es gibt …« Die Stimme der Frau zitterte, und ihr Blick huschte unstet über die Menge der Umstehenden.
»Lauter«, wies sie der Soldat an.
»Es gibt schlimmere Lebensbedingungen!«, schrie sie. »Sie denken, es wäre jetzt schon schlimm, aber Sie haben keine Ahnung. Wenn Sie Informationen über den Heckenschützen haben, wenn Sie einen der Verbrecher von den Fahndungsplakaten gesehen haben, dann informieren Sie sofort die Soldaten.«
Wildes Geflüster breitete sich in der Menge aus.
Der Soldat löste den Verschluss seines Gürtelhalfters. Dabei spielte er mit dem Haar des Jungen, wie es ein Vater hätte tun können, wäre die Drohung durch seine Waffe nicht so offensichtlich gewesen. Seine ausdruckslose Miene sagte mir, dass er keine Probleme damit hätte, den Jungen zu verletzen, um das zu bekommen, was er wollte. Ich wollte zurückweichen, aber die Leute hinter mir bildeten eine feste Mauer in meinem Rücken.
»Glaubst du, das haben Soldaten getan?«, flüsterte ich Chase zu.
Seine Miene blieb nichtssagend; nur in seinen Augen flackerte der Zorn. Eine Antwort bekam ich nicht.
»Also, wer hat Informationen für mich?«, fragte der Soldat.
»Jemand muss dem ein Ende machen«, wisperte ein Mann neben mir. Er hatte recht. Mir kochte schon wieder das Blut in den Adern.
»Ich habe gehört, die Miller wäre gestern nach dem Anschlag in der Zeltstadt gewesen«, gestand eine Frau rechts von mir.
Ich erstarrte und wagte nicht zu atmen. Chase zog die Schultern hoch und schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: Rühr dich nicht .
»Komm mit. Wir müssen dir ein paar Fragen stellen«, forderte der zweite Soldat die Frau auf. Weiter vorn drückte die Mutter nun ihr Kind an die Brust und schien vor Angst wie gelähmt zu sein.
»Mehr weiß ich nicht«, jammerte die Bekennerin mit brüchiger Stimme. »Ich schwöre, das ist alles, was ich weiß.«
»Komm mit«, wiederholte der Mann. »Oder du wirst wegen Vorenthaltung von Informationen angeklagt.«
»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß!«, kreischte sie, als einer der Soldaten sie fortschleppte.
Mir blieb vor Entsetzen der Mund offen stehen. Da waren Hunderte von Leuten in Hörweite. Hunderte, die diese beiden Soldaten hätten überwältigen können, aber niemand rührte sich. Am liebsten hätte ich selbst sie aufgehalten und gesagt: »Ich bin die, die ihr sucht!« , aber das konnte ich nicht. Sie hätten mich auf der Stelle
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