Gesetz der Rache: Roman (Artikel 5, Band 2) (German Edition)
Gründe, in der Defensive zu bleiben, also schnappte ich mir meine Klamotten und ging zurück in die Fabrikhalle und zu Tucker Morris.
Als ich herauskam, lehnte Chase gleich neben der Tür an der Wand, die Arme vor der Brust verschränkt, und stierte quer durch den Raum finster den Horizons-Lieferwagen an. Ich glättete meinen Pullover und krempelte die Hose einige Male um, bis sie mir endlich nur noch bis zu den Fersen reichte. Dass meine Arme noch mit Ruß und getrocknetem Blut verschmiert waren, hatte ich ganz vergessen, und als ich sie untersuchte, strich er mir zögernd mit einer Hand durch das Haar. Instinktiv lehnte ich mich in die Berührung, erschrak aber, als er eine ganze Handvoll verbrannter Haare und Asche fallen ließ. Ich hätte meine nächste Mahlzeit gegen eine Dusche eingetauscht.
»Billy sucht im Zentralcomputer nach neuen Verhaftungen«, berichtete er und verschränkte wieder die Arme vor der Brust, als Tuckers Schatten am Ende des Trucks auftauchte.
»Hat er schon was gefunden?« Es schien beinahe herzlos, aber sollte Wallace nicht mehr aus Knoxville herausgekommen sein, dann hoffte ich, dass er im Wayland Inn gestorben war, denn ich wusste, was ihn in den Arrestzellen erwartete, sollte er geschnappt werden.
»Noch nicht.« Chase zögerte. Dann: »Lincoln hieß eigentlich Anthony Sullivan. Das habe ich bisher gar nicht gewusst.«
Stille senkte sich über den Raum. Sean, der mit Marco und Polo vor einem kleinen Lagerraum auf der anderen Seite des Trucks stand, blickte auf. Seinem Gesichtsausdruck entnahm ich, dass auch er verwundert war. Viele Leute benutzten Spitznamen. Das half uns, einander nicht zu nahe zu kommen, aber diese Grenze hatte Chase gerade eingerissen. Er hatte uns Lincoln nähergebracht, und nun wirkte sein Verlust noch viel niederschmetternder.
Die sowieso angespannte Stimmung wurde noch trüber.
Tucker hüpfte von der Ladefläche des Trucks und hob zwei Flaschen Whiskey hoch. »Wir sitzen hier fest. Machen wir doch das Beste daraus.«
Niemand erhob Einwände.
Cara, die hinter mir aus dem Waschraum gekommen war, fragte: »Habt ihr Jungs irgendwelche Tassen?«
Marco verschwand im Lagerraum und kehrte mit einem ganzen Turm aus Pappbechern zurück. Tucker öffnete eine der Flaschen und goss jedem großzügig ein. Während wir hinter dem Truck einen Kreis bildeten, erinnerte ich mich, dass der einzige Drink, den ich je genommen hatte, ein Schluck Wein gewesen war, den Beth und ich in der neunten Klasse aus dem Schmuggelvorrat meiner Mutter gemopst hatten. Ich wusste nicht recht, wie ich wohl mit einem halben Becher Whiskey auf beinahe leeren Magen zurechtkäme.
»Jemand sollte was sagen«, murmelte Sean.
Die anderen sahen sich erwartungsvoll zu Chase um. Nicht zu Cara, die Lincoln viel länger gekannt hatte, zu Chase.
Wallace’ Stimme hallte durch meinen Kopf. »Du hattest es, Jennings. Du hattest es, und du hast es weggeworfen.« Damals hatte ich angenommen, er wäre nur enttäuscht, einen guten Soldaten zu verlieren, aber es war mehr als das. Er hatte in Chase einen Anführer erkannt.
Ich ließ die bernsteinfarbene Flüssigkeit in meinem Becher kreisen. Wallace hatte recht; Chase war gut in Krisenzeiten. All die Zeit, in der ich ihn bekämpft hatte, nachdem er mich aus der Reformschule gerettet hatte, kam mir nun vergeudet vor.
Als Chase seinen Becher hob, spürte ich eine Woge der Verunsicherung. Was sollte man zu solch einem Anlass sagen? Wir wussten ja nicht einmal, ob Lincoln Familie hatte.
»Auf Lin…Anthony«, sagte Chase und räusperte sich. »Er hat sich als Soldat gut geschlagen … in den Kämpfen, auf die es wirklich angekommen ist.«
Das ist der einzige Kampf, auf den es wirklich ankommt. Der Kampf, den wir jetzt ausfechten.
»Und auf jeden anderen, der in diesem Gebäude in der Falle gesessen hat«, fügte er hinzu. »Katzen eingeschlossen.«
Billy musste aufstoßen und zog die Schultern hoch. Cara wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und lehnte sich an Sean, der ihr mit erbitterter Miene die Schulter tätschelte. Marco senkte den Kopf, und seine Lippen bewegten sich in einem stummen Gebet.
Die Luft in der Druckerei war erfüllt von einem Gefühl der Schwere. Verlust um Verlust häufte sich um uns herum an, bis es schien, als wäre der Raum voller Geister. Wir gedachten derer, die wir liebten – derer, deren Namen zu benennen wir nicht stark genug waren. Und wir erinnerten uns, warum wir uns zur Wehr setzten.
Ich vermisste meine Mutter
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