Gesetze der Lust
seiner Brust gespürt hatte. Sein Buch flog durch die Luft, und Nora setzte sich rittlings auf ihn drauf. Sie hatte beide Hände auf seine Brust gestützt, zwischenihren Zähnen eine Schere. Sie wirkte wie ein GuerillaFriseur.
„Was machst du da?“, hatte Wesley gefragt, als Nora ihn mit einer Hand in die Couch gedrückt und mit der anderen wild mit der Schere gefuchtelt hatte.
„Ich schneide dein Haar. Du hast die schönsten braunen Augen, die ein Mann nur haben kann, und du versteckst sie hinter deinen dummen Haaren. Jetzt halt still, wenn du nicht willst, dass ich dir ein Auge aussteche.“
Die Schere kam näher, und Wesley hatte seinen Kopf so tief wie möglich in die Sofakissen gedrückt. Doch Nora hatte erst aufgegeben, als er auf das Grab von Anaïs Nin – ihrer persönlichen Heldin – schwor, dass er noch in derselben Woche zum Friseur gehen würde. Jetzt reichte ihm sein Haar fast bis auf die Schultern. Seine Mom beschwerte sich darüber, aber ihr Gejammer machte ihn nicht halb so glücklich wie Noras Angriff aus dem Hinterhalt. Insgeheim empfand er seine langen Haare als Quelle der Kraft, so wie bei Samson. Nur um Nora zu ärgern, hatte er sie nicht geschnitten. Sie konnte es nicht sehen, es war ihr völlig egal, aber er wusste, wenn sie ihn sähe, würde sie es hassen. Und das war ihm im Moment eine kleine, geheime Befriedigung. Und lächerlich war es auch, allerdings. Sie machte sich nichts aus ihm, sie liebte ihn nicht, sie vermisste ihn nicht. Warum machte er sich also solche Gedanken?
Wesley schaute die Post durch und fand nichts, was ihn interessierte. Die Tulane hatte sich noch nicht gemeldet. Vermutlich war es noch zu früh. Er hatte seine Unterlagen erst vor zwei Wochen eingeschickt. Er ließ die Post auf das Tischchen fallen und entdeckte dabei einen großen, wattierten Umschlag, der an ihn adressiert war.
Er warf einen Blick auf den Absender und sah, dass es sich um jemanden aus New York handelte. Hatte einer seiner alten Kumpels von der Yorke ihm etwas geschickt? Wesley riss den Umschlag auf.
Lange starrte Wesley das Titelbild des Hardcoverbuchs an. Der Trostpreis von Nora Sutherlin.
Mit zitternden Fingern klappte Wesley das Buch auf. Er blätterte eine leere Seite um … dann noch eine. Auf dem Schmutztitel stand eine in vertrauter Handschrift geschriebene Nachricht.
Blättere die Seite um, Wes .
Wesley atmete zitternd ein. Sein Herz raste wie wild in seiner Brust. Dreizehn Monate nichts als Schweigen und nun …
Auf der nächsten Seite stand die Widmung.
Wesley lehnte sich gegen die Haustür. Er brauchte etwas, das ihn aufrecht hielt. Die Tür wurde dieser Aufgabe jedoch nicht gerecht, und er rutschte an ihr entlang auf den Boden. Er erinnerte sich … Nora in ihrem Bett, das Haar noch feucht, ihr Gesicht vollkommen ungeschminkt. Nie hatte sie so schön ausgesehen. Am nächsten Tag war ihr Jahrestag mit Søren, und wie üblich hatte sie vorgehabt hinzugehen. Schließlich hatte Wesley den schrecklichen Grund dafür erkannt.
„Du liebst ihn immer noch, oder?“, hatte er gefragt.
Sie war sich mit den Händen durch die nassen Haare gefahren und hatte die Wassertropfen zu Boden fallen lassen.
„Viele Wasser“, hatte sie gesagt.
Sodass auch viele Wasser die Liebe nicht auslöschen und Ströme sie nicht ertränken können . Das Hohelied Salomos, Kapitel 8 Vers 7.
In anderen Worten: Ja, sie liebte Søren immer noch.
Wesley starrte die Widmung an, bis seine Augen anfingen zu tränen.
Für W. R. Viele Wasser .
Sie hatte ihm das Buch gewidmet. Nicht Søren, wie alle ihre anderen Bücher. Viele Wasser … Sie liebte ihn auch immer noch.
Unter die Widmung hatte sie noch etwas geschrieben.
Wesley, du Knalltüte, du hättest es mir sagen können .
Hättest es mir sagen können? Was hätte er ihr sagen können?
Wesley hob den Kopf. An der Decke der Eingangshalle des Hauses hing ein Kronleuchter, der einst in Versailles gehangen hatte – dem französischen Palast, nicht dem Ort in Kentucky.Und das Buch war direkt an diese Adresse und nicht an seine alte Schuladresse geschickt und dann weitergeleitet worden.
„Mist …“ Wesley holte tief Luft. Sie wusste jetzt, wer er war. Wie hatte sie es herausgefunden? Nun ja, so schwer war das nun auch wieder nicht. Sie musste ihn bei Google oder so gesucht haben. Er sollte sich revanchieren. Die Adresse auf dem Umschlag sagte ihm nichts. Vielleicht hatte Nora Connecticut verlassen … New York City verlassen … Søren verlassen.
Er
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