Gesetze der Lust
fuhr davon. Nora blieb mit dem schüchternen Jungen und dem notgeilen Hausherrn allein zurück.
Mit einem Blick in den blauen Himmel über sich sandte Nora ein kurzes Stoßgebet zur heiligen Maria Magdalena, der Schutzheiligen aller Prostituierten, und an den heiligen Judas, den Patron der verzweifelten und hoffnungslosen Fälle. Ihr Gebet bestand nur aus einem Wort.
„Hilfe!“
Suzanne atmete tief durch und flüsterte ein einziges Wort: „Afghanistan.“
Ein seltsames Mantra, aber für sie funktionierte es. Sie war die letzten drei Monate in diesem trostlosen, zerbrochenen Land gewesen. Sie erinnerte sich an das Schicksal ihrer Kollegen.
Lieutenant Hatton, der gut aussehende Texaner, der sie immer Red genannt hatte: eine Bombe hatte ihm den rechten Arm zerfetzt.
Staff Sergeant Zimmerman, der New Yorker Jude, der nicht aufhören konnte, mit ihr zu flirten: eine Kugel ins Brustbein.
Private First Class Goran, der schüchterne Junge aus North Dakota, der zu Hause eine einjährige Tochter hatte: ein Schuss mitten ins Hirn.
Sie hatte das alles mit angesehen. War Zeugin von Gräueltaten geworden, an die sie sich kaum erinnern konnte – weil ihr Gehirn gut darin war, die Bilder so tief zu vergraben, dass selbst sie sie nicht finden konnte.
Niemand verstand so richtig, warum sie diesen Weg eingeschlagen hatte, nicht einmal sie selbst. Als sie sich auf dem College für Journalismus als Hauptfach entschieden hatte, hatte ihr Berater gesagt, dass sie mit ihrem Aussehen eine erstklassige Wetteransagerin werden könnte. Sie wäre natürlich intelligent, aber darauf sollte sie sich nicht verlassen. Ihr Körper und ihr Gesicht würden sie sowieso überall hinbringen, wohin sie wollte. Dann hatte er ihr an den Arsch gepackt und ihr in allen Einzelheiten erzählt, was er gerne mit ihr anstellen würde.
Sie war sofort zum Dekan gegangen, und der erstklassige Professor wurde gefeuert. Als er sein Büro ausräumte, hatte sie an die Tür geklopft, ihn angelächelt und gesagt: „Das Wetter heute: Bewölkt mit Aussicht auf Kündigung.“ Dann war sie einfach gegangen. Wetteransagerin!
Ihr Bruder Adam war ein Missbrauchsopfer gewesen. Allein deshalb hatte sie damals den schmierigen Professor ausschalten müssen. Und Father Stearns könnte der Nächste sein …
„Afghanistan“, wiederholte sie. Sie war in Kriegsgebieten gewesen. Sie würde das schaffen. Suzanne zog sich ein schlichtes schwarzes Kleid an und steckte ihre langen roten Haare zu einem Knoten auf. Um mehr über Father Stearns herauszufinden, würde sie ihn persönlich kennenlernen müssen. Nach einem Blick auf die Website der Sacred-Heart-Kirche wusste sie, dass Father Stearns am Donnerstag die Abendandacht hielt.
Sie hatte Patrick absichtlich nichts von ihrem Ausflug nach Wakefield erzählt. Er würde sich nur Sorgen machen, Sorgen, dass man ihr wehtun würde. „Afghanistan“, sagte sie ihm jedes Mal, wenn er anfing, sie zu bevormunden. Er jagte betrügerischen Politikern von der Upper East Side hinterher, sie berichtete aus Krisenregionen und begab sich regelmäßig in Lebensgefahr. Das ließ ihn meistens verstummen.
Bevor sie ging, schlüpfte Suzanne noch in ein Paar schwarze, flache Schuhe. Mit gut einem Meter fünfundsiebzig war Suzanne so groß wie die meisten Männer, die sie kannte. Die Priester aus ihrer Kindheit waren alle kleine, alte und schwache Männer. Sie wollte, dass dieser Priester sich in ihrer Gegenwart wohlfühlte – wohl genug, um mit ihr zu reden. Ihn mit ihrer Größe einzuschüchtern würde in dieser Situation nicht helfen.
Da Suzanne durch und durch ein Stadtmensch war, besaß sie kein Auto. Aber Patrick hatte zum Glück eines und war von ihren Fahrkünsten überzeugt genug, dass er es ihr auslieh – oder er wollte sie einfach nur wirklich zurückhaben und schreckte vor nichts zurück, um sich bei ihr beliebt zu machen.
Fünf Minuten vor Beginn der Abendmesse traf sie vor der Sacred Heart ein. Sie rannte vom Auto in die Kirche und suchte sich einen versteckten Platz im hinteren Bereich. Nachdem sie sich gesetzt hatte, nahm sie sich die Zeit, sich umzuschauen und einen Überblick zu verschaffen. Aus ihrer Handtasche holte sie ihren kleinen Notizblock heraus und klappte ihn auf.
Wunderschönes Kirchenschiff , notierte sie. Buntglasfenster, die Christus’ Wunder darstellen, beeindruckende Architektur. Der Chor befindet sich links über mir und bietet Platz für ungefähr 300 Menschen. Wirklich eine tolle Kirche. Ich hasse sie
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