Gesetze der Lust
dem Cover waren die Handgelenke einer Frau abgebildet, die mit einem blutroten Seidenband zusammengebunden waren. Er erinnerte sich daran, das Bild so lange ohne zu blinzeln angeschaut zu haben, dass seine Augen angefangen hatten zu tränen. Aber auf keinen Fall würden sie einem Dreizehnjährigen ein solches Buch verkaufen. Er hatte darüber nachgedacht, es zu stehlen, aber allein beim Gedanken daran zog sich sein Magen schmerzhaft zusammen. Er fand einen Fantasyroman über Könige und Einhörner, der den gleichen Preis und die gleiche Größe wie The Red hatte, und tauschte einfach die Umschläge aus. Den Umschlag brauchte er nicht. Das Bild der gefesselten Handgelenkte hatte sich in seine Netzhaut eingebrannt. Wenn er es anschaute, wenn er diese gefesselten Handgelenkeund die blassen Hände sah, konnte er nicht anders, als sich vorzustellen, es wären seine Handgelenke und Hände. Das Bild sprach zu ihm. Flüsterte ihm zu. Liebe, hatte er gedacht, als er das Bild das erste Mal angeschaut hatte. Genauso sieht Liebe aus.
Er kaufte das Buch und nahm es mit nach Hause. Nachdem seine Eltern ins Bett gegangen waren, war er die ganze Nacht aufgeblieben und hatte gelesen. Und die nächste Nacht auch.
Als er nach seinem Selbstmordversuch zu den Gesprächsstunden mit Father Stearns ging, schaffte er es schließlich, allen Mut zusammenzunehmen und ihn nach Nora zu fragen, die Father S. Eleanor nannte. Aus irgendeinem Grund lautete seine erste Frage: „Ist sie hübsch?“
Father Stearns antwortete: „Michael, Eleanor ist ohne Zweifel die schönste Frau, die je gelebt hat oder leben wird. Wenn du ein nächtliches Gewitter nehmen und in eine Frau verwandeln könntest, bekämest du eine sehr gute Vorstellung davon, wie sie aussieht. Und auch eine ziemlich gute Vorstellung davon, wie sie sich benimmt“, hatte er mit einem Lächeln hinzugefügt. Michael hatte danach eine ganze Weile geschwiegen. Er liebte nächtliche Gewitter, mochte es, wie das Haus unter der Kraft des Windes und des Regens erzitterte und wie der Himmel unter den Blitzen aufriss. Nach langem Schweigen hatte der Priester Michael ernst angeschaut und gefragt: „Würdest du sie gerne einmal kennenlernen?“
Father S. hatte mit ihm einen Deal geschlossen: Wenn Michael es schaffte, sich ein ganzes Jahr lang nicht selber zu verletzen – keine Verbrennungen, keine blauen Flecken, keine Schnitte, keine Selbstmordversuche –, würde er ein Treffen zwischen ihm und Nora Sutherlin arrangieren. Elf Monate nach Abschluss dieses Handels hatte Michael in der Sacred Heart gesessen und seine Hausaufgaben gemacht. Seine Mom hatte, nachdem die Scheidung durch war, einen neuen Job bekommen. Er wurde besser bezahlt als der alte, aber sie musste an einigen Abenden bis halb zwölf arbeiten. Sie mochte es nicht, Michael allein zu Hause zu lassen, deshalb hatte Father S. ihr angeboten, an diesenTagen länger in der Kirche zu bleiben, damit Michael nicht alleine wäre.
Es war ein Montagabend während einer ganz normalen Schulwoche, daran erinnerte er sich noch. Er arbeitete an einem Schaubild über Mendel, das er für den Biologieunterricht am nächsten Tag brauchte. Er hörte Father S. mit irgendjemandem telefonieren, konnte aber nicht verstehen, was gesagt wurde. Es klang, als spräche er Französisch. Das machte er ab und zu am Telefon. Manchmal Französisch. Manchmal eine andere Sprache, die in Michaels Ohren klang wie Schwedisch, die jedoch, wie er später erfuhr, Dänisch war. Michael hörte, dass Father S. das Telefon auflegte. Als der Priester aus seinem Büro kam, hatte er wieder dieses traurige Lächeln.
„Sie hat ihre Hausaufgaben auch immer hier gemacht“, sagte er ohne Vorrede. Michael musste nicht fragen, wer „sie“ war. „Man wusste immer, wenn sie gerade Mathe machte.“
„Woher wusste man das?“, fragte Michael.
„Ich und jeder, der sich zu diesen Zeiten in der Kirche befand, konnte ihre Flüche hören.“
Michael hatte gelacht. „Ich kann es kaum erwarten, sie kennenzulernen.“
„Du musst nicht länger warten. Bist du bereit?“
In diesem Moment waren Michaels Hände das erste Mal wieder taub geworden, seitdem er Monate nach seinem Krankenhausaufenthalt das Gefühl in ihnen zurückgewonnen hatte. Sie – Nora Sutherlin, die Frau, die seine tiefsten Träume gestohlen und auf Papier gebannt hatte. Michael nahm einen ängstlichen flachen Atemzug und fing an, seine Hausaufgaben zusammenzupacken.
Dann hatte er genickt. „Ich bin bereit.“
Er
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