Gesetzlos - Roman
Gendarmerie von Limoursen-Hurepoix.
Kein einziger aussagekräftiger Fingerabdruck in dem Simca Versailles, kein einziges Indiz, das es erlaubt hätte, eine Ermittlung durchzuführen. Kein einziger Gierow war durch die eilig aufgestellten Polizeisperren gekommen. Ein Überfall von Geistern oder Außerirdischen, sagte einer der Polizisten zu den Tormonds.
Die drei Männer wurden nie gefunden. Man erfuhr nichts über sie. Man wusste nur, dass der Mörder zum Tatzeitpunkt lange Haare gehabt hatte, lang und hell, blond, aber sicher war Lucie sich nicht.
Am Tag nach der Beerdigung von Albin und Éva Nomen verbrachte Michel einen Großteil des Nachmittags allein in seinem Schlafzimmer, auf dem Bett liegend.
Er schlief nicht. Gelegentlich hörte er Stimmen im Nachbarraum. Es war Sylvie, ihre Großmutter, die mit der armen Lucie sprach. Sie versuchte sie zu trösten, trocknete ihre Tränen, ermunterte sie dazu, Kekse zu essen.
Fast pausenlos kümmerte sie sich um sie.
Michel, der mit großer Phantasie begabt war und für sein Alter viel nachdachte, fiel es schwer zu glauben, dass man seine Eltern nur getötet haben sollte, um ein Auto zu stehlen. Vielleicht steckte ein anderer Grund dahinter? Was, wenn sein Vater ein Doppelleben geführt hatte, wenn er in geheime und gefährliche Machenschaften verstrickt gewesen war, von denen niemand in der Familie je etwas erfahren hatte?
Vielleicht war der Mord nur der Endpunkt einer langen Geschichte, in die sein Vater verwickelt gewesen wäre?
Er sprach mit Sylvie über seinen Argwohn. Doch sie konnte ihn beruhigen und davon überzeugen, dass – nein, unmöglich –,sein Vater kein Doppelleben geführt hatte. Es war die Tat von Irren, von Leuten, für die ein Menschenleben wertlos war und die dazu bereit waren, aus niederen Beweggründen, ja, grundlos zu töten.
K APITEL 4
(Präambel)
DIE GESCHICHTE MIT CATHY, 1
Brich auf zu sterben und kehre zurück,
auf dass ich dich lieben kann
.
(Armenisches Sprichwort)
Das ist er!
Georges Feydeau
Cathy Maynial mit ihrem langen schwarzen Haar, das immer verstrubbelt war (aus Gewohnheit, und das sah ja auch so niedlich aus!), Cathy hob den Finger: Sie wusste es. Sie wusste es immer. Sie war bei Weitem die beste Schülerin der achten Klasse, die klügste und auch die liebenswürdigste.
Sie war zwölf Jahre alt, ein Jahr Vorsprung.
»Ja, Cathy?«
»Contrapunctus 11 –
Die Kunst der Fuge
«, sagte sie. »Bach.«
Sie lächelte mich an. Die Frage war nicht einfach. Ich war mir nicht sicher, ob ich sie womöglich nur für sie gestellt hatte, um des Vergnügens willen, sie darauf antworten zu hören – und ich fragte mich sogar, ob sie meine Absicht nicht erriet, was ihr Lächeln erklären würde.
Ich lobte sie.
Ihre Anwesenheit half mir, den anstrengenden Mittwochskurs zwischen fünf und sechs Uhr zu ertragen. Die Schülerinnen waren müde und gereizt, mir ging es nicht viel anders. Die neue Institutsverwaltung hatte offenbar beschlossen, meinen Unterrichtsplan zu sabotieren. Um es gleich zu sagen, der neue Direktor und der Vizedirektor waren beide nutzlose Idioten, die Musik offenbar für das hinterletzte aller Fächer hielten, heimtückische Idioten, die mich nicht leiden konnten und nur neidisch waren (ich weiß, wovon ich rede). Es war mir schleierhaft, durch was für Ränke und aberwitzige Umstände sie an ihre Posten gekommenwaren. Sie kannten sich schon lange und steckten immer unter einer Decke (»die dreckigen Säcke«, Anruf bei Maxime an dem Tag, als ich sie mit diesem Etikett bedacht hatte), sie waren mir feindlich gesinnt, ganz sicher, Umgang pflegten wir aus reiner Höflichkeit (während der alte Direktor – fortgerafft in seinem Arbeitszimmer beim letzten Schub einer angeborenen Krankheit, die ihm sein Leben lang aufgelauert hatte – ein guter Freund geworden war).
In meiner Heimatstadt war ich zuerst Musiklehrer gewesen. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich beschlossen, vor der Vergangenheit zu fliehen und nach Paris zu gehen. Ich hatte mich für eine Privatschule entschieden, um bei der Berufung mehr Sicherheit zu haben, ich misstraute dem staatlichen Schulsystem, da bittet man um Ober-Hammer-Schlau und kriegt dann Unter-aller-Sau (auch da ein Anruf bei Maxime, der damals einen Auftrag in Bukarest hatte). Ich hatte also eine Stelle in Paris bekommen – was selbst im privaten Schulsystem nur mit der Unterstützung einer Freundin von Maximes Mutter, Ida Retable, möglich war. (Ida Retable, die in den letzten
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