Gesetzlos - Roman
volle weiße Haar (das von den eher groben Gesichtszügen ablenkte), schon war er fertig. Éva und er schritten gemeinsam hinunter. Die Brille hatte Éva abgesetzt. Sie war groß und elegant, ebenso groß wie ihr Ehemann, wenn sie – wie an diesem Abend – Absätze trug. Beide waren nicht mehr ganz jung. Sie hatten Michel ziemlich spät bekommen, und Lucie sogar noch später, mit ihr hatte keiner mehr gerechnet, sieben Jahre lagen zwischen den Geschwistern.
Zum Zeitpunkt von Lucies Geburt war Albin bereits Rentner gewesen. Sein Vater hatte gewünscht, ja gefordert, dass Albin eine Militärkarriere einschlug. Er hatte sich gefügt, jedoch ohne Begeisterung. Er war Unteroffizier geblieben und hatte nie versucht, einen höheren Dienstgrad zu erreichen, sondern sich nach fünfzehn Jahren Langeweile in einer Verwaltung so früh wie möglich verrenten lassen. Er hatte keine Geldsorgen, seine Eltern hatten ihn nicht mittellos gelassen. Évas Vater, ein steinreicher Botschafter spanischer Herkunft, der in Peru verstorben war, hatte ihnen zur Hochzeit gar die Villa in der Avenue Foch geschenkt, und obendrauf einen dicken schwedischen Luxusschlitten.
Éva und Albin waren mit ihrem Rentnerleben, das mit allerlei mondänen Aktivitäten gefüllt war, hoch zufrieden. Überdies gab Éva zweimal pro Woche behinderten Kindern Nachhilfeunterrichtin Spanisch, und Albin malte – hässliche Bilder, die er für gewöhnlich gleich wieder verbrannte. (Jene, die sich die zufällig über das allgemeine Mittelmaß erhoben, verbrannte er ebenso wie die anderen. Er behauptete ganz ernsthaft und sogar mit einem gewissen Vergnügen, dass diese zerstörerische Geste das Beste an seiner Arbeit war.)
Sie gingen durch das große Wohnzimmer im Erdgeschoss, wo über dem Kamin ein Landschaftsgemälde hing. Dieses ansprechende Bild war nicht Albins Werk, sondern das seines Sohnes Michel, der im Gegensatz zu ihm echtes Talent besaß. Michel hatte im Alter von elf Jahren mit dem Malen angefangen und schon bald gewusst, dass er sein Leben ganz der Malerei widmen würde. Seine Eltern hofften, diese frühe und fordernde Berufung würde ihm helfen, die depressiven Zustände zu überwinden, die ihn seit der Kindheit heimsuchten. Zwei Jahre zuvor hatte Éva ihn dabei ertappt, wie er sich alle Beruhigungsmittel und Schlaftabletten, die er in der Hausapotheke ihres Zimmers gefunden, in die Tasche gestopft hatte. Was hatte er damit vor? Sie zu schlucken? Hatte er wirklich an Selbstmord gedacht? Niemand vermochte es zu sagen, er jedenfalls wusste es nicht.
Glücklicherweise hatte sich kein weiterer beängstigender Zwischenfall dieser Art ereignet, und so nahmen sie an, dass es Michel trotz seiner Zurückgezogenheit und Schweigsamkeit gut ging.
»Michel, wir gehen!«, rief Éva.
Kurz darauf erschien Michel auf der Treppe. Er hatte einen auffallend klugen Blick, sein Gesicht hingegen war hässlich, offensichtlich hatte er von seinem Vater nur jene Züge geerbt, die am wenigsten Anmut besaßen. Dicht hinter ihm stand Bertrand, ein bleicher, hagerer Junge (der häufig der Klassenbeste und häufig gleichauf war mit Michel). Sie verabschiedeten sich, wobei sich Bertrands Stimme, ein tiefer Bass, deutlich von den anderen abhob. Michel gab seinen Eltern und seiner Schwester Lucie einen Kuss. Er überragte sie um einen Kopf. Sie war noch einKind, er schon ein Teenager, fast doppelt so alt wie sie. Nach dem Abschiedskuss drückte er sie, anstatt sie loszulassen, noch fester an sich, als begegnete er ihr nach langer Abwesenheit zum ersten Mal oder als sähe er sie nie wieder. Normalerweise waren seine Gefühlsbezeugungen nicht so demonstrativ. Lucie stieß ein kleines Lachen aus, so heftig hatte er sie umarmt, dann brach sie gemeinsam mit ihren Eltern auf.
Der langgestreckte und robuste schwedische Wagen (ein Gierow, das teuerste Modell dieser Marke) rollte langsam aus der Tiefgarage der Avenue Foch 26 und fuhr bis zum Boulevard périphérique, dann die Seine entlang, um den Parc de Boulogne herum und schließlich auf die Autobahn Richtung Chartres und Orléans.
Die Tormonds wohnten in Limours-en-Hurepoix. Ursprünglich waren Hugues und Huguette Tormond Freunde von Évas Mutter Sylvie Soleares gewesen. Éva und Albin hatten sich eng mit ihnen angefreundet und kamen (trotz der Tochter Marie-Jeanne, einem wirklich unangenehmem Kind) gern zu Besuch.
Die Autobahn war frei. Trotz seines schweren, etwas klobigen Aussehens glitt der Gierow mit einem gleichmäßigen,
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