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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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Jahren ihres Lebens Élise Voutand-Bersot sehr nahe gestanden hatte, war lange in Maxime verliebt gewesen und ähnelte darin – wie in manch anderen, geradezu beunruhigenden Dingen, z.B. der Narbe an ihrer Lippe – Rosa Dartle, der Gesellschaftsdame von Frau Steerforth, der Mutter Steerforths, des lieben Freundes von David Copperfield in
David Copperfield
.)
    Zwei Jahre lang hatte ich an einer Einrichtung gelehrt, die mir nicht gefiel. Das ideale Angebot kam schließlich mit dem Institut Benjamin, einer Freien Mädchenschule (»aber nicht gerade mädchenfreien Schule«, Maxime in der Türkei) für Schülerinnen der Sekundarstufe. Ideal, weil die Einrichtung in der Rue des Martyrs 37a lag, von mir aus gesehen also nur zwölf Hausnummern weiter, weil die Klassen klein waren (etwa zwölf Schülerinnen pro Klasse), und schließlich auch weil das allgemeine Niveau hoch war, gemessen an unserem geistig und seelisch im Verfall (Maxime:»im freien Fall«) begriffenen Zeitalter sogar ungewöhnlich hoch. Mit der Aufnahme in diese Einrichtung wurden Schülerinnen wie Lehrer quasi geadelt und infolge der strengen Regeln und Sanktionen auch ständig getadelt, wie Maxime zu sagen pflegte (aber vielleicht sollte ich damit aufhören – ich gelobe Besserung – die Wortspiele wiederzugeben, an denen mein Freund und ich uns gern ergötzten, ganz gleich an welchem Ort er sich gerade befand), Maxime, der so tat, als würde er mir vorwerfen, der alte unverbesserliche Anarchist (aber er war alles mögliche, er spielte so viele Rollen!), ich würde mich in einem »tödlich bürgerlichen« Lebensstil einrichten. (Es stimmt schon, dass die Eltern, die ihre Kinder auf das Institut Benjamin schicken konnten, nicht gerade zum Proletariat von Paris und Umgebung gehörten, und auch, dass es auf eine gewisse Bequemlichkeit meinerseits hinwies, dass ich in einem solchen Kokon lehrte.)
    Unser Gespräch vom Vortag über die Launen des Gedächtnisses ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Woher kamen die vier Verse, die tief in meinem Innern versunken gewesen und vor einigen Tagen plötzlich wieder an die Oberfläche geschwemmt worden waren? Gehörten sie, wie es Maxime gefallen hätte, zu den Erinnerungen eines anderen, der ich früher gewesen wäre, und hatten sie sich zum Zeitpunkt meiner Geburt gewissermaßen in mich hineingeschlichen, zu einem Zeitpunkt, der dem Tod jenes »anderen« entsprach? Noch erstaunlicher war, wie es Maxime gelingen konnte, mich mit solchen Geschichten zu verwirren (wenn auch nur ein bisschen, aber das Bisschen war schon viel, das Bisschen war zu viel), bei denen ich normalerweise nur mit den Schultern gezuckt, die ich mir nicht einmal angehört hätte, wären sie mir nicht von meinem alten Freund erzählt worden. War Maxime verrückt – manchmal, wenn man die Leute zu gut kennt, merkt man es ja nicht? Nein, beileibe nicht, er war alles Mögliche, nur nicht verrückt!
    Als ich am Abend zuvor zu mir nach Hause zurückgekehrt war, hatte ich den Vierzeiler auf die erste Seite eines Hefts ausblutrotem Leder und schneeweißen Seiten geschrieben (eines der vielen Hefte, die Maxime mir geschenkt hatte).
    Ich hatte die Angewohnheit, die zweite halbe Stunde meines Unterrichts praktischen, anregenden Übungen zu widmen. Meistens sangen wir. Mit der Zeit hatte ich mir ein richtiges kleines Repertoire erarbeitet, zu dem das von den Mädchen heißgeliebte
Laudemus Virginem
aus dem Llibre Vermell de Montserrat (14. Jahrhundert) gehörte sowie der sanfte Choral der Bach-Kantate 185 (die obligate Violinenpartie gespielt von der ach so sanften Irène Renning) oder auch schlichtere, volksliedhaftere Gesänge wie
Nous sommes trois souverains princes
oder
Voisin d’où venait ce grand bruit
, die ich für ihre jungen Mädchenstimmen arrangiert hatte. Jene, die dazu Lust hatten, spielten Flöte, Klavier oder Violine, allein oder zu mehreren, oder ich spielte selbst ein Stück, zum Beispiel
Danza de la Pastora
von Ernesto Halffter (1905-1989), worum sie mich gern baten.
    Ich unterrichtete siebzehn Stunden pro Woche. Ich hatte nichts gegen meine Arbeit, im Gegenteil. Es war ein angenehmer Ort. Trat man durch die Tür der Nummer 37a, befand man sich in einem Park mit Bäumen und Blumenbeeten, und am Ende des Parks erhoben sich, dem südlichen Licht ausgesetzt, das Stylobat und die Säulen, Friese, Gesimse und Architrave der hellen, an sonnigen Tagen blendenden Fassade des Institut Benjamin, eines überladenen Baus aus dem 19. Jahrhundert.
    Von

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