Gesetzlos - Roman
zwangsläufig mehr für mich. Aber ich glaube, am liebsten mag er dich. Dir schaut er am längsten in die Augen. Ganz normal, denn du hast die schönsten Augen der Welt. Kann ich die anderen Seiten des Hefts sehen? Deines Tagebuchs?«
»Wie du magst«, sagte sie und wand sich wieder, diesmal auf andere Weise.
Nein, dazu ist sie nicht bereit, sagte sich Albin.
»Na, ein andermal. Außerdem sind wir in Eile. Ich lasse dich weiterschreiben, ich mache mich schnell fertig.«
»Nein, ich höre auch auf! Heute weiß ich nicht, was ich erzählen soll.« (Ihre Augen leuchteten auf.) »Willst du nicht etwas hineinschreiben?«
»Aber gern!«, sagte Albin.
Mit einer rührenden Geste reichte sie ihm entschlossen und vertrauensvoll den Kugelschreiber. Albin küsste sie aufs Haar. Er vergötterte seine Tochter (und Lucie ihren Vater). Er schob die Banalitäten, die ihm einfielen, beiseite. Ein Gedicht, genau, das wäre das Richtige.
Er schrieb in sorgfältiger Handschrift, bedächtig wie ein Kalligraph:
Die Liebesträume früher Jahre
sind sämtlich mit der Zeit entschwunden
.
Auf dass ich in Erinnerung wahre
mein Warten, bis ich dich gefunden
.
Keine Unterschrift. Gern hätte er mehr geschrieben, aber mehr kam nicht. Den Rest, den Autor hatte er vergessen.
»
Ein hübsches Gedicht, oder?«, fragte er.
Lucie war überglücklich.
»
Ja! Hast du es dir ausgedacht?«
»
Nein.« (Er lächelte.) »Ich glaube nicht … ich muss es wohl beim Aufsagen in der Schule gelernt haben. Ich weiß nicht mehr, wer es geschrieben hat. Nur für dich habe ich mich daran erinnert, mein Schatz.«
Lucie las die vier Verse noch einmal durch und blickte auf: »Dann ist es also so etwas wie ein Geheimnis?«
»Genau. Ein Geheimnis zwischen uns.«
»Wirst du es auch niemandem erzählen?«
»Niemandem. Und du auch nicht?«
»Ich auch nicht!«, sagte Lucie aus tiefstem Herzen.
Dann versuchte Albin die Fragen seiner Tochter zum Sinn des Vierzeilers zu beantworten.
»Auf dass ich in Erinnerung wahre mein Warten bis ich dich gefunden«, war nicht leicht zu erklären. Aber er gab sein Bestes und hatte den Eindruck, dass Lucie ihn sehr gut verstand.
Lucie räumte das Heft in die untere Schublade ihrer Kommode. Das Möbelstück roch gut nach Holz und Wachs. Lucie liebte den Geruch, der ihr im weiteren Leben stets die Kindheit in Erinnerung rufen sollte.
»Nehmen wir Kolia mit?«, fragte sie.
»Nein. Es geht ihm im Auto nicht gut. Weißt du noch das letzte Mal?«
»Ja, stimmt, der Arme!« (Sie ging an die Fenstertür ihres Zimmers.) »Er liegt am Swimmingpool. Ich gehe runter, ihm tschüss sagen.«
Im Flur, von dem alle Zimmer des Obergeschosses abgingen, kamen sie an Michels Schlafzimmer vorbei, Michel war Lucies großer Bruder. Die Tür war zu. Kein Mucks. Michel spielte Schach mit Bertrand, einem Schulfreund. Michel ging nicht gern zu den Tormonds. Er langweilte sich dort. Vor allem mochte er die Tochter nicht, eine eingebildete Pute von fünfzehn Jahren, die nicht einmal hübsch war und ihn kaum eines Blickes würdigte. Hätte Bertrand nicht kommen können, wäre er alleine da geblieben und hätte mit seinem elektronischen Schachbrett gespielt. Und er hätte gemalt, sein letztes Bild überarbeitet, bei dem ihm die Perspektive missraten war, Valette, sein Zeichenlehrer, hatte ihm gezeigt, was nicht stimmte. (Aber das Bild »hatte etwas«, trotz des technischen Fehlers, hatte Valette gesagt, wie bei allem, was Michel malte.)
Albin und Lucie traten hinaus auf die Freitreppe, von der aus man in einen Park mit Swimmingpool, einer Schaukel und Blumenbeeten blickte. Der Lärm der Avenue Foch war nicht zu hören. Das Haus war von der Straße abgewandt und durch Wohnhäuser von ihr getrennt – sowie durch eine Reihe Bäume, die die Wohnhäuser verdeckten. Hier fühlte man sich sehr fern von der Stadt, sehr fern von allem, anderswo.
Langsam lief die Katze am Rand des Swimmingpools entlang.
Der Vater und die Tochter kamen näher. Albin setzte sich in einen Rattansessel und Lucie ging Kolia streicheln, ein schönes Tier mit einem eindringlichen Blick, mal verspielt, mal abweisend und schwermütig. Im darauffolgenden Moment erschien im Fenster des ersten Stocks Évas Gesicht, mit Brille und Haarknoten. Sie mahnte Albin, nicht zu trödeln. Sie wollte pünktlich bei den Tormonds sein, damit der Abend nicht zu spät endete, sie war müde. Albin erhob sich und ging hinein zu seiner Frau. Krawatte, Anzug, einmal mit dem Kamm durch das wellige, noch
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