Gesetzlos - Roman
Anfang an bestand ein gutes Verhältnis zu den Kollegen, auch wenn diese – bis auf eine mehrmonatige Beziehung mit Marie-Pierre Valet-Michelet, die seit drei Jahren Zeichenlehrerin am Institut war – rein beruflicher Natur waren. Dann war Marie-Pierre ins Ausland (Madrid) gegangen und hatte mir angeboten ihr zu folgen. (Es war ein Angebot, mein Leben mit ihr zu teilen: Doch dieses war mir leider, ach, unmöglich.)
Dann die Versuchung, sie durch die Tochter des Direktors höchstpersönlich zu ersetzen (dieser Halunke besaß ein wirklich hübsches Kind), Nathalie Mornais, der ich auf dem Institutsfestbegegnet war, eine Versuchung, der ich jedoch erfolgreich widerstand (das Böse braucht man nicht zu suchen, es kommt ziemlich schnell von allein gelaufen, und trollt sich nur langsam wieder fort, wenn überhaupt).
Wir hatten miteinander getanzt. Sie hatte mir ihre Telefonnummer gegeben. Ich meldete mich nicht.
Ich habe sie nie wieder gesehen.
Soviel zu meiner Karriere und meinem Leben, dem Leser ins Ohr geflüstert, kurz bevor Solène Walser an der Violine und Cathy am Klavier (diese Leichtigkeit in Cathys Spiel, diese Eleganz trotz ihres zarten Alters!) den dritten Satz, Andante, der Sonate in G-Dur von Bach, BWV 1027, beendeten. Ende des Unterrichts, die Glocke läutete bei der letzten Note.
Nachdem die Schülerinnen hinausgeströmt waren, räumte ich das Nötigste weg und brach auf. Ich schritt durch einen Flur, folgte dann einem weiteren, der ziemlich lang war, die letzte Tür rechts war die von Mornais. Sein Büro ging zum Park auf der Seite der Rue des Martyrs. Ich wollte ihm ein Formular mit meinen Wünschen für den Stundenplan im kommenden Schuljahr geben, damit die Dummheiten dieses Jahres vermieden würden – wohlwissend, dass er und Quiret, sein Helfershelfer, sie nicht berücksichtigen würden.
Just in dem Moment, als ich anklopfen wollte, öffnete sich die Tür und er stand vor mir. Laue Begrüßung, er schnappte sich das Formular und sagte: »Ich hatte Herrn Maynial am Telefon. Anton Koenig hat angerufen, um ihm mitzuteilen, dass er sich um eine gute halbe Stunde verspätet. Wenn Sie bis zu seiner Ankunft auf Cathy achtgeben könnten … sie müsste bereits auf der Straße sein.«
Auf der Straße! Der Ton, in dem er das sagte! Böse Menschen sind erfindungsreich, wenn es darum geht, dem Bösen, das in ihnen steckt, auf tausendfache Weise Ausdruck zu verleihen …
Seine Feindseligkeit empörte mich. Ich musste mich zwingen, ihm ins Gesicht zu sehen.
»In Ordnung, ich gehe zu ihr«, sagte ich.
Es war nicht das erste Mal, dass Cathys Vater und Anton, ihr Chauffeur, mich um einen vergleichbaren kleinen Dienst baten – auch nicht das tausendste Mal –, aber es war innerhalb der letzten zwei Jahre doch häufiger vorgekommen: Man wird schon bald erfahren, warum ich diesen Punkt so unterstreiche. Ich ging also zu Cathy – »auf die Straße«, sprich: vor das Tor. Sie stand mit ein paar Freundinnen zusammen (darunter Maryse Étrelat, die nie weit von Cathy war, ebenso die rothaarige Marie-Jeanne Jalley), und wenn man sagen würde, dass sie lebhaft miteinander schwatzten, wäre das sicher nicht gelogen.
Ich winkte ihr zu und rief: »Cathy, Anton verspätet sich um eine halbe Stunde. Nein, länger noch, um vierundzwanzig Stunden.« (Ich zeigte auf das Café de la Rue, auf der anderen Seite der Rue des Martyrs, genau gegenüber vom Institut:) »Wenn meine Gesellschaft dir nichts ausmacht …«
Sie schenkte mir ein breites Lächeln (für das »vierundzwanzig Stunden« und das »wenn meine Gesellschaft dir nichts ausmacht«) und nickte freudig.
Wir gingen hinüber. Kein Platz auf der Terrasse. Also setzten wir uns hinein, an ein Fenster. Cathy wollte ein Erdbeertörtchen, weil sie lecker aussahen, sagte sie, und um zu sehen, ob sie so lecker waren, wie sie aussahen. Die Nähe zur Schule hatte einen nicht geringen Einfluss auf das gute Geschäft des Café de la Rue, das immer randvoll mit Schülern war. Einige kamen jedoch nur sehr selten, die jüngsten, und jene, die wie Cathy streng von ihren Eltern überwacht wurden.
Cathys Familie bestand nur aus einem alten behinderten Vater. Ihre Mutter, die Hubert Maynial wegen seines Geldes geheiratet hatte (er war Leiter eines Unternehmens, das weltweit Straßen baute), war mit einem anderen Mann durchgebrannt, als Cathy acht wurde. Zwei Jahre später erlitt Hubert Maynial einen Schlaganfall, worauf hin er nicht mehr gehen konnte und an den Rollstuhl
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