Gesetzlos - Roman
Michels erste Sorge dem geplanten Umzug.
Das Haus in der Nummer 1 der Impasse du Midi in Saint-Maur-des-Fossés gefiel ihm am besten von den sieben besichtigten Häusern. Es war ein prächtiger Bau vom Anfang des 19. Jahrhunderts voll geschwungener Linien.
Der riesige Raum im ersten Stockwerk wäre ein ideales Atelier.
Im März 1987 zog er mit Clara ein, am 12. Clara war sechs Monate alt. Lucies persönliche Dinge, die sich in der Kommode ihres Schlafzimmers befanden, transportierte er mit dem eigenen Auto und sortierte sie dann genau an ihren Platz zurück in dem schönen Möbelstück. Sein Unbehagen und seine Rührung überwindend, las er in dem
Giulio Giannini e figlio
-Heft in der Hoffnung, darin auf den Namen von Claras Vater zu stoßen, obwohl er seiner Schwester geglaubt hatte, als sie ihm versichert, es selbst nicht zu wissen – außerdem endete das Tagebuch viel zu früh im Leben der unglücklichen Lucie.
Die vier von Albin eingetragenen Verse hatten seine Aufmerksamkeit geweckt. Wer hatte sie geschrieben? Sie stammten von einer anderen Hand, Lucie hätte sie nicht so sorgfältig kalligraphieren können. Vielleicht ein Klassenkamerad von Lucie, zum Beispiel Marc, der oft in die Avenue Foch gekommen war und den Lucie gut leiden mochte? Vielleicht auch Albin, schließlich hatten sich der Vater und die Tochter sehr nahegestanden … aber die Schönschrift machte den Vergleich mit Albins Handschrift unmöglich. Und warum war der Name des Autors nicht erwähnt? Weil die Person, die die Verse niedergeschrieben hatte, es nicht wusste, es vergessen hatte? Weil sie selbst der Autor war? Aber hätte sie in diesem Fall nicht mit »Marc« oder einem anderen Namen, oder »Papa« unterschrieben?
Unlösbar.
Er hatte die Kommode in ein kleines Zimmer neben seinem Atelier im ersten Stock aufstellen lassen.
Das Glück wollte, dass er ein perfektes Kindermädchen fand, Alma Perez, eine dunkelhaarige Frau, die ein gewisses Alter überschritten hatte und Michels Ansicht nach (dem gleich bei der ersten Begegnung die anmutige Form ihrer mandelförmigen Augen aufgefallen war) sehr liebevoll und klug war. Ihr Mann, ein Gendarm in einer südlichen Kleinstadt, hatte sie wegen einer anderenFrau sitzen lassen. Sie hatten keine Kinder gehabt. Er hatte nie wieder von sich hören lassen, nie wieder ein Lebenszeichen von sich gegeben (sodass sie offiziell noch immer verheiratet waren). Er blieb unauffindbar. Alma hatte den Schicksalsschlag in ihrem Fatalismus demütig hingenommen und war trotz gelegentlicher Gesuche keine Beziehung mit anderen Männern eingangen.
Sie kündigte ihre Stellung in einem Hotel in Boulogne und zog bei den Nomens ein. Noch immer war Michels Schmerz erstickend, aber das Leben wurde allmählich wieder erträglich. Es war ein Glück, die kleine Clara Tag für Tag wachsen und sich verändern, ihre Persönlichkeit erwachen und ihre Schönheit gedeihen zu sehen, ihre sanfte und liebkosende Stimme zu hören, wie sie die Wörter immer besser aussprach.
Er war vom Farbspiel ihrer Augen und ihrer Haare fasziniert.
Zwei Wochen nach Lucies Tod hatte er seinen Unterricht in Garches wieder aufgenommen. Er liebte seine Arbeit. Sein Verhältnis zu den Kollegen und Schülern, die ihn verehrten, war gut. Er versuchte beim Unterrichten ebenso viel Großmut und Begeisterung zu vermitteln, wie Valette es ihm gegenüber getan hatte. (Die einzige Person, die ihm missfiel – und die ihn, weiß der Teufel warum, nicht ausstehen konnte –, war Maurice Lazuret, der Hausmeister der Einrichtung, ein verflixter Schurke, der einem bei jeder Gelegenheit auf tausendfache Weise zu verstehen gab, dass aus ihm mehr hätte werden müssen, sollen, können als ein Hausmeister; ein Mann, der über seine subalterne Tätigkeit arg verdrossen war, und darüber, dass nicht alles unter seiner Leitung stand – im Übrigen benahm er sich mitunter so, als würde alles unter seiner Leitung stehen, wobei er mit seinem vorteilhaften Äußeren kokettierte, denn er war noch jung und gutaussehend und entsprach wahrhaft nicht der herkömmlichen Vorstellung, die man sich von einem Schulhausmeister machte; hätte er behauptet, er sei Zeichenlehrer, so hätte man ihm ohne Weiteres geglaubt.)
Und Michel begann wieder zu malen, allerdings, wie er fand, ohne Fortschritte zu erzielen, ohne sich zu entwickeln. Bei denWerken, die er schuf, hatte er es zwar zu einer gewissen Meisterschaft gebracht, aber er wusste, dass er sich wiederholte, und verschob sein
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