Gesetzlos - Roman
Großmutter mit zu einem Bach-Konzert der kanadischen Pianistin Angela Hewitt. Dieses Konzert wurde zum prägenden Moment in Claras Leben. Trotz ihres Alters blieb sie im ganzen ersten Teil auf die Musik konzentriert, und dann wieder bei den Zugaben.
Von da an entwickelten sich die Dinge im rasanten Tempo. Michel erwarb eine HiFi-Anlage, eine riesige Menge an Schallplatten und Musical-Filmen und einen Yamaha-Stutzflügel, überzogen mit schwarz funkelndem Lack, der sich in dem großen Wohnzimmer im Erdgeschoss wunderbar ausnahm. Und er ging mit Clara sooft wie möglich ins Konzert (einmal sogar nach Como, wo der Pianist Bruno Canino spielte, erneut mit Sylvie, und auch mit Maurice Duplat, der inzwischen zwei Stöcke zum Gehen benötigte).
Anfang 1992 schrieb Michel sie an der städtischen Musikschule von Saint-Maur in den Einführungskurs ein.
Er begleitete sie jede Woche zum Klavierunterricht und zum Theoriekurs. Wenn er keine Zeit hatte, sprang Alma Perez ein. (Diese gute, feinsinnige, aufopferungsvolle Frau, die ihre Rolle an Claras Seite großartig ausfüllte, war für beide unverzichtbar geworden.)
Nach dem einen Jahr Musikunterricht legte Clara ihre Prüfung für die nächste Stufe ab, die sie mit »sehr gut« bestand. IhreLernbegierde, ihre musikalische Intelligenz und ihre geschickten Finger ließen sie alle Schwierigkeiten meistern.
Sylvie starb im August 1993 an einem plötzlichen Herzstillstand in einem Flur des Krankenhauses, in dem Maurice Duplat in der Notaufnahme lag. (Der alte Schriftsteller verschied nur kurze Zeit später, wobei er drei vollendete Manuskripte hinterließ, die sein Verlag veröffentlichte und deren Titel,
Hierzu kein weiteres Wort, Unbeweglich, flach, die Erde
und
Man weiß ja nie
auf geradezu perfide Weise zur Situation passten.)
Michel fühlte sich mit Clara allein auf der Welt.
Im Laufe der Zeit sammelten sich immer mehr Portraits von ihr im Haus an. Eine beachtliche Zahl musste auf den Dachboden gebracht werden.
Was sein eigenes Werk anging, hatte Michel endlich den Eindruck, die ausgetretenen Pfade zu verlassen – und zwar, wie er sich tief bewegt sagte, genau seitdem er Clara malte.
Ab dem Jahr 1994 begann er jene Werke auszuwählen, die ihm würdig schienen, Teil der Ausstellung seines Lebens zu werden.
Claras Schönheit wurde immer frappierender.
Eines Abends im Juni 1996, dem Jahr, als sie zehn Jahre alt wurde, litt sie unter Schlaflosigkeit. Gegen ein Uhr morgens stand sie wieder auf. Michel hörte sie und stand auch auf. Gemeinsam tranken sie einen Kräutertee, plauderten lange, und Clara spielte ein wenig Klavier.
Sie war hellwach.
Erst gegen vier Uhr morgens kehrten sie ins Bett zurück.
(An dieser Stelle unterbrach ich Claras Bericht – einen Bericht, dessen Lücken sie und ich nach und nach füllten, indem wir gemeinsam die Ereignisse und Szenen möglichst haargenau rekonstruierten, die sie selbst nicht erlebt hatte, sodass ich mich später bei meiner eigenen Schilderung der Begebenheiten an das halten konnte, was für sie die Vergangenheit gewesen war, von ihrer Geburt bis zum heutigen Tag:
»Das war am Dienstag, den 6. Juni«, sagte ich ihr, »in der Nacht vom sechsten auf den siebten. Ich habe Sie gehört, Maxime und ich haben Sie gehört.«)
Am darauffolgenden Tag, am Nachmittag des 7. Juni, nachdem sie einen langen Mittagsschlaf gehalten hatte, malte Michel sie in einem weißen Spitzennachthemd (eines der vielen Geschenke, die Sylvie ihr gemacht hatte). Bald erhellte ihr Blick das Gemälde, das Atelier, die ganze Welt. Man musste diesen Blick noch besser wiedergeben, dachte Michel, so angestrengt, dass er die Zungenspitze herausstreckte, und mit einem Gesichtsausdruck, den er zuletzt im Alter von fünfzehn Jahren in Valettes Unterricht gehabt hatte.
Und Clara ließ sich malen, ganz zerstrubbelt und mit rührender Gefügigkeit.
K APITEL 10
A SLIGHT CASE OF MURDER
Stimmen nun hört man sofort
und gewaltiges Kindergewimmer, Säuglingsseelen,
sogleich am Eingang weinend und klagend, Sie, die,
des freundlichen Lebens beraubt,
vom Busen der Eltern raffte der finstere Tag,
in den bitteren Tod sie versenkend
.
Vergil,
Aeneis
»Couldn’t hold on. Well, I couldn’t let go.«
»What?«
»I tried to hold on, but I tried to let go.«
Richard Fleischer,
The New Centurions
A Slight Case of Murder
, ein kleiner Mordfall, harmlos, unbedeutend, unwichtig, beinah gar kein Mord, so der Titel eines Films von Lloyd Bacon von 1938 mit Edward G. Robinson und
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