Gesetzlos - Roman
Projekt von der großen Ausstellung, die ihn endlich ins Scheinwerferlicht treten ließe, auf später, wenn die Zeit gekommen wäre – ein Projekt, das ihm nach dem Tod seiner Schwester immerhin Halt gab.
Bertrand war sein Freund, sein enger Freund geblieben. Bertrand, der in allen Schulfächern begabt gewesen war, hatte sich letztlich für ein naturwissenschaftliches Studium entschieden. Die beiden Männer trafen sich häufig (und spielten noch immer Schach). Michel empfand Bertrands Gesellschaft als beruhigend. Bertrand verstand es, nichts zu sagen, oder sich mit wenigen Worten zu begnügen, die er, nur wenn es sein musste, in seiner schönen Bassstimme vortrug. Nach Lucies Tod wurde sich Michel bewusst, wie sehr auf ihn Verlass war. Er lebte allein, wenn auch aus anderen Gründen als Michel, hätte jedoch auf sexuelle Beziehungen nicht verzichten können. Seit Jahren ging er regelmäßig zu einer Prostituierten, immer zu derselben, die zu einem Kreis von fünf schönen und auf professioneller Ebene höchst originellen Freundinnen gehörte. Eines Abends, als Michael und Bertrand gemeinsam zu Abend aßen (ein Jahr nach der Geschichte mit Marie) hatten sie ein vertrauliches Gespräch. Michel bekannte, dass Marie Dobost ihm zwar nicht fehlte, die Freuden des Fleisches hingegen aber schon ein wenig und mit der Zeit, ehrlich gesagt, immer mehr – er hatte mit Marie so unglaubliche Höhepunkte erlebt! Als sie auseinandergingen, hatte er die Telefonnummer der fünf Freundinnen in der Tasche, und einige Wochen später rief er sie an.
Er selbst fixierte sich auf Muriel, eine kleine Brünette mit blauen Augen und langen Haaren, die er lange Zeit regelmäßig besuchen sollte.
Die Frau seines Lebens hingegen war Clara: Sein Warten war nicht umsonst gewesen, dieses Kind liebte er wie ein Wahnsinniger, dieses Kind hatte ihm der Himmel geschickt.
Er kümmerte sich voller Hingabe um sie und achtete stets darauf, dass sie nicht zu sehr, ja so wenig wie möglich unter Lucies Abwesenheit, unter der Abwesenheit ihrer Mutter litt. Bei der Bewältigung dieser Aufgabe war ihm Alma Perez von entscheidender Hilfe.
Bei den Nomens war keiner je Musiker oder Musikliebhaber gewesen, weder auf Évas noch auf Albins Seite. Der nicht völlig banale Grund dafür war, dass es in dem Haus der Avenue Foch nie ein Klavier gegeben hatte, keines jener Klaviere, die gutbürgerliche Familien bei jedem Umzug mitzunehmen pflegen.
Michel hatte selbst auch nie Musik gehört – außer als er anfing, Clara zu zeichnen und zu malen, als Hintergrundgeräusch.
Bis zu Claras viertem Lebensjahr kam Michel gar nicht auf den Gedanken, sie auf einer Leinwand abbilden zu wollen (abgesehen von ein paar eiligen, fast nur aus Spaß angefertigten Skizzen), so versunken war er in sein ewiges Thema – als würde es für ihn immer unvorstellbarer werden, nach all den Jahren etwas anderes als seine leeren Landschaften zu malen, die sich manchmal auf ein paar Linien und eine matte Farbe mit fast unmerklichen Schwankungen ihrer Intensität zwischen der einen und der anderen Stelle des Bildes beschränkten – als sei »malen« genau das, was er tat, und nichts anderes.
Doch als eines Tages Clara in sein Atelier kam und ihn aufmerksam bei der Arbeit beobachtete, hatte er plötzlich das Bedürfnis, ein Portrait von seiner Nichte anzufertigen, ein Werk, dem er die nötige Zeit und den nötigen Eifer widmen würde.
Und dieses Bedürfnis ließ ihn nicht mehr los. Wenn seine Zeit und Claras Laune es erlaubten, ließ er sie posieren und arbeitete frei von allen üblichen ästhetischen Zwängen, nur noch auf die Frage der Ähnlichkeit konzentriert, ganz darauf bedacht, so gut wie möglich den farblichen Auf bau der blonden Haare, das Blaugrün der Augen, die Anmut ihrer Haltungen wiederzugeben.Um ihr während der ohnehin schon kurzen Sitzungen, die sie für ihn Modell stand, die Zeit zu vertreiben, legte er auf einer kleinen Stereoanlage Schallplatten auf. Er hatte festgestellt, dass Clara gern Musik hörte, und rasch ihre Vorlieben herausgefunden,
Bruder Jakob
, Kanons, eine melodische Linie, die sich mit einem gewissen zeitlichen Abstand über sich selbst legte, Kontrapunkte, den Wettlauf klar unterscheidbarer Stimmen, Fugen. Wenn die Sitzung beendet war, rührte sich Clara häufig nicht von der Stelle, stand nicht von ihrem Sitz auf, sondern wartete das Ende des Stückes ab.
Im Dezember 1991, während eines Besuchs von Sylvie, nahm Michel das Mädchen und seine
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