Gesetzlos - Roman
Auszug aus einem Gedicht, einem Lied? Wer hatte sie in das Heft geschrieben? Es war unmöglich dahinterzukommen, ihr Onkel hatte es ihr wiederholt gesagt. Wie sehr hätte sie sich doch gewünscht, dass es Albin, ihr Großvater gewesen wäre! Was den Autor anbelangte, würde es ihr vielleicht gelingen, seinen Namen herausfinden, wenn sie gründlicher suchte, als Michel es getan hatte. Außer, es handelte sich um einen Unbekannten(wovon Michel ausging), einen Anonymus, der kein Schriftsteller war, Albin, oder irgendjemand anders … es war entmutigend.
Sie klappte das Heft wieder zu und legte es in das untere Schubfach zurück. Eine große Traurigkeit erfüllte sie. Sie hörte Schritte auf der Treppe. Zwei Bedienstete, ein Mann und eine Frau, stiegen hinauf, um im ersten Stock sauber zu machen.
Alma Perez, ihr so aufopferungs- und liebevolles Kindermädchen, hatte das Haus zwei Jahre zuvor verlassen. Es war eine schwere Trennung gewesen … die Nomens hatten sie liebgewonnen, und sie die Nomens. Was wäre Claras Kindheit ohne Alma gewesen? Michel war ihr unendlich dankbar. Damit sie weiter bei ihnen angestellt blieb, vor allem aber um sich weiter ihrer Gegenwart zu erfreuen, hatte er ihr weniger anstrengende Aufgaben zugeteilt, zum Beispiel in der Küche (sie kochte sehr gut). Dann war im Jahr 2006 nach langen Jahren der Abwesenheit und des Schweigens Marcus, Almas Ehemann, wieder aufgetaucht. Er war gerade verrentet worden. Mühelos hatte er die Spur seiner Frau wiedergefunden und sie angerufen. Er hatte ein Häuschen zwischen Vence und Cagne-sur-Mer gekauft und sie überraschend aufgefordert, zu ihm zu ziehen, damit sie das Lebensende gemeinsam beschließen konnten. Alma war fassungslos gewesen. Nach einem Monat langer Telefongespräche und qualvollen Haderns hatte sie schließlich eingewilligt.
Ohne es genau erklären zu können – sagte sie zu Clara und Michel –, spürte sie, dass die Jahre in Saint-Maur vorbei waren, dass ihre Aufgabe hier beendet und ihr Platz nun an der Seite ihres Mannes war. Sie hatte ihm verziehen. Etwas von der ursprünglichen Zärtlichkeit verband sie noch immer, sie hatte es im Laufe der langen Unterhaltungen mit ihm gefühlt. Und dieses zarte Band hatte gute Aussichten, wieder zu erstarken, wenn sie erneut unter einem Dach lebten. Michel und Clara hatten sie in ihrer Entscheidung bestärkt, wenn auch schweren Herzens undentgegen dem eigenen Wunsch. Der Abschied war herzzerreißend gewesen. Später hatten sie noch häufig telefoniert. Alma wirkte jedes Mal überglücklich, mit ihnen zu sprechen, schlug ihnen aber kein Wiedersehen an dem einen oder anderen Ort vor. In der Hinsicht war sie erstaunlich zurückhaltend. Nach zwei Jahren endlich lud sie die beiden ein, sie zu besuchen, zum Beispiel zu den nächsten Weihnachtsfeiertagen. Michel und Clara hatten voll Vorfreude zugesagt.
Clara setzte sich ans Klavier und spielte Bach, wie immer. Den größten Teil ihres Studiums hatte sie Bach gewidmet. Aber seit zwei Jahren interessierte sie sich auch für spanische Musik (zum Teil wegen der Herkunft ihrer Mutter), und so spielte sie das Präludium der
Cantos de España
und die
Danza de la Pastora
von Ernesto Halffter.
Im Wohnzimmer im Erdgeschoss hatte sich nichts groß geändert. Clara spielte noch immer auf dem Yamaha-Stutzflügel, den ihr Onkel ihr zum fünften Geburtstag gekauft hatte und dessen schwarzer Lack noch immer aufglänzte, wenn die Sonne den Raum erfüllte. Die braunen Vorhänge waren ersetzt worden, die neuen waren in einem sanften satten Orangeton gehalten. An einer Wand hatte Michel ein kleines Gemälde von Eugène Galien-Laloue zwischen zwei Türfenstern aufgehängt, das Fred Mars ihm geschenkt hatte, ein alter Lehrer von der Rue Bonaparte. Michel hängte nicht gern Bilder an den Wänden auf (außer die Portraits seiner Nichte, er hätte sie überall hingehängt, wenn Clara sich dem in ihrer liebenswürdigen Art nicht widersetzt hätte). Aber an dem unaufdringlich und meisterhaft ausgeführten Gemälde von Galien-Laloue,
Boulevard sous le soleil
hatte ihm das Thema gefallen, insofern es einen anonymen und vor allem leeren Boulevard ohne einen einzigen Menschen zeigte, eine absolute Ausnahme im Werk jenes Malers, der sich auf die Darstellung bekannter Plätze in Paris spezialisiert hatte, an denen es vor Leuten nur so wimmelte.
Und über dem Klavier hing ein großes Portrait von Clara, Michels Lieblingsportrait. Alle anderen waren nach und nach auf den Dachboden
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