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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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unbekannter Blumen erinnerten. Als sie etwas größer wurde, gaben ihr die vier in einer anderen Handschrift hineingeschriebenen Verse Rätsel auf. Michel teilte ihr seine Vermutungen mit sowie die Befürchtung, man würde dem nie auf den Grund kommen.
    Ab 2001, dem Jahr, als sie die Abschlussklasse besuchte (für die Prüfung hatte sie als frei wählbares Stück Bach ausgesucht) und im Anschluss daran die Aufnahmeprüfung für das nationale Konservatorium der Region Saint-Maur bestand, kam der weitere Verlauf ihres Lebens mit dem ihres Musikstudiums zur Deckung. Nach zwei Jahren erhielt sie die Goldmedaille, die das Studienfach Klavier abschloss. Parallel dazu hatte sie Theoriekurse auf hohem Niveau belegt und angefangen Kammermusik zu spielen. Im Wettstreit mit den besten Schülern des Konservatoriums belegte sie Kurse in Komposition, Harmonik und vorallem in Kontrapunkt und Fuge, jene Formen, für die sie sich seit ihrer Kindheit begeisterte.
    Schließlich bestand sie die Aufnahmeprüfung für das Conservatoire. Im Laufe der folgenden drei Jahre, die ihr 2006, als sie gerade zwanzig geworden war, einen ersten Preis eintrugen, kamen ihr Talent und ihre Leidenschaft für Musik zur vollen Entfaltung. Während ihrer Studienzeit nahm sie an mehreren »Meisterkursen« und an einzelnen Sommerkursen im Ausland teil. (Ein prägendes Ereignis war in London die Begegnung mit dem Pianisten Murray Perahia, der sie zu ihrer Interpretation von Bachs Partita Nr. 4 beglückwünschte.)
    Anfang 2008 schrieb sie sich in einen Fortbildungskurs ein, der sie auf internationale Wettbewerbe vorbereiten sollte. Sie lernte Mathieu Pipelare kennen, einen Agenten, der ihr von mehreren Freunden empfohlen worden war und der ihr von der ersten Minute an zugeneigt war (dies galt allerdings auch für jede andere Person, die mit Clara zu tun hatte).
    Sie gab sich der Musik mit derselben Begeisterung hin wie ihr Onkel Michel der Malerei und interessierte sich für Jungs nicht mehr als Michel in ihrem Alter für Mädchen. Vielleicht wartete sie auf ihre Weise auf »die Liebe ihres Lebens« – ihre Sexualität, um es klar in zwei Worte zu fassen, war zu dem Zeitpunkt ihrer Geschichte noch nicht erwacht – und, um es in ein paar Worte mehr zu kleiden: Sie schien von einem heilsamen (und – wie ich inzwischen auch bestätigen kann, nachdem ich Clara ganz zwanglos über sich habe erzählen hören – von den üblichen psychologischen Wirren in solchen Situationen klar unterscheidbaren) Instinkt geleitet zu sein, der sie zu gekommener Zeit ihrer Bestimmung zuführen würde.
    Vertrauensvoll wartete sie ab.
    Ihr genügten kleine Flirts mit Jungs (immer Musiker), die angenehme Gesichtszüge und ein sanftes Naturell hatten, von der Sorte, die nicht aufdringlich wurde und es ihr nicht verübelte, wenn sie sich Liebkosungen entzog, die ihr zu weit gingen.
    Einmal, ein einziges Mal, löste der Gedanke, nicht »wie die anderen« zu sein (und flüchtig auch der Gedanke, deswegen nicht sonderlich unglücklich zu sein), Verzweiflung in ihr aus – und zwar an dem Tag, als sie beim Verlassen des Kinos ihren Onkel in Begleitung einer Frau erblickte (es handelte sich um Muriel), Hand in Hand. Der Anblick hatte bei ihr ein Gefühl des Ausgeschlossenseins hervorgerufen. Aber es war nicht von Dauer gewesen. Michel gegenüber sollte sie diese Begegnung nie erwähnen. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass sie sie einfach vergessen hatte. Michel war für sie der einzelgängerische Michel, den sie kannte, der Onkel, mit dem sie das Haus in Saint-Maur teilte und der sich stets durch grenzenlose Güte auszeichnete. Dass er mit Frauen oder einer Frau ausging, bedeutete ihr nicht viel. Sexuelle Beziehungen zwischen Männern und Frauen gehörten für sie in eine andere Welt, auf einen anderen Planeten, darin bestand ihre Eigentümlichkeit, ihre »Anomalität« in diesem Lebensabschnitt.
    Am Mittwoch, den 12. März 2008, gegen zehn Uhr, als Clara erneut vor den geöffneten Schubfächern der Kommode stand, überkam sie ein weiteres Mal die Lust, das florentinische
Giulio Giannini e figlio
-Heft in die Hand zu nehmen. Doch an diesem Morgen blätterte sie mit einer gewissen Fiebrigkeit darin. Sie blieb an dem Vierzeiler hängen, und es war ihr, als würde sie ihn heute zum ersten Mal lesen. Hatte er einen geheimen Sinn, barg er irgendein Rätsel? Nein, natürlich nicht, die Verse sagten nur, was sie sagten. Die üblichen Fragen prasselten auf sie ein: Waren die Zeilen ein

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