Gesetzlos - Roman
Albtraum erzählte, der sich am 6. Juni ’66 zugetragen hatte. Ihre Fragen hatten sie ausweichend beantwortet, indem sie einen Verkehrsunfall erwähnten: Ihre Großeltern wollten zu einem Abendessen bei Freunden in Limours-en-Hurepoix fahren, als plötzlich auf halber Strecke, kurz hinter Gometz-la-Ville, ein Verrückter am Steuer, der im Übrigen Fahrerflucht begangen hatte …
Irgendwann hatte Michel im Laufe der Jahre beschlossen, es dabei zu belassen, nichts anderes zu erzählen. Warum sollte er Clara mit den unerträglichen Bildern dieser Gräueltat, so wie sie sich zugetragen hatte, belasten? Weder er noch Sylvie sahen darin die Notwendigkeit.
Dennoch sollte Clara die Wahrheit erfahren.
Michel holte sie häufig nach dem Unterricht ab, um ihr einen Gefallen zu tun und sie im Auto nach Hause zu fahren – und auch, wie er sich eines Tages eingestehen musste, um sich zu vergewissern, dass keine männliche Person allzu beharrlich um seine Nichte herumscharwenzelte. Er bewachte sie nicht eigentlich, aber sein Anstandsgefühl, seine Klarsicht, seine Vernunft kapitulierten vor seiner Neugierde, er wollte es einfach wissen. Eines Tages, als er im Hof des Konservatoriums von Saint-Maur auf sie wartete (es war der Schulbeginn des Jahres 2001, Clara war gerade fünfzehn geworden), kam sie mit einer Freundinheraus, die er verblüfft »wiedererkannte«: Ihm war, als sähe er die unveränderte Marie-Jeanne Tormond, die Tochter der Tormonds, vor sich. Er war überzeugt, dass es sich um ihre Tochter handeln musste (das war auch der Fall), dass Marie-Jeanne eine Tochter im selben Alter wie Clara hatte, die in diesem Jahr das Konservatorium von Saint-Maur besuchte. Die Tochter wirkte auf ihn genauso eingebildet wie die Mutter in seiner Erinnerung, und er wollte ihren Umgang ebenso meiden, wie vor fünfunddreißig Jahren den der Mutter.
Clara wirkte weniger verspielt als sonst. Michel erriet sofort, was geschehen war. Der Überfall von ’66 war für die Familie Tormond ein einschneidendes Erlebnis gewesen, und Marie (die Tochter von Marie-Jeanne) hatte den Vorfall einmal erzählt bekommen. Sie hatte den Namen Clara Nomen im Konservatorium gesehen oder gehört, die beiden Mädchen hatten sich unterhalten, und nun wusste Clara Bescheid.
Das gab sie gegenüber ihrem Onkel auch zu (und auch, dass sie Marie Tormond, von der sie sich fortan fernhielt, nicht leiden konnte). Sie war Michel wegen der kleinen Lüge mit dem Autounfall nicht böse. Es war keine richtige Lüge.
Und sicherlich hätte sie ihm eine Unehrlichkeit im Zusammenhang mit Lucie noch weniger verübelt. Clara hatte tausendmal darüber nachgegrübelt, wer ihr Vater sein mochte. Doch Michel hatte sich nie dazu durchringen können ihr zu enthüllen, was für ein liederliches Leben ihre Mutter nach dem Tod von Kater Kolia und bis zu ihrer Schwangerschaft geführt hatte. So hatte er einen flatterhaften Verlobten erfunden, der sich aus dem Staub gemacht, kaum dass er von ihrer Schwangerschaft erfahren und sich darauf hin nie wieder gemeldet hatte, während Lucie (die zu spät bemerkt hatte, dass sie ihn nicht liebte und er sie nicht liebte) alles daran setzte, ihn zu vergessen. Deswegen hatte sie ihren Verwandten wenig von ihm erzählt, Michel wusste nicht einmal seinen Namen (in der Hinsicht sagte er die reine Wahrheit).
Ansonsten wusste Clara über ihre Mutter alles, was man über sie wissen konnte. Sie hatte Sylvie und Michel über sie ausgefragt, gemeinsam mit ihnen Fotoalben angeguckt, wieder und wieder hatte sie Lucies Abschlussarbeit über Quevedo und den Anfang ihrer Übersetzung von
Der Abenteuerliche Buscón
gelesen. Manchmal verbrachte sie einige Zeit in dem kleinen Raum im ersten Stock (der an das Atelier ihres Onkels grenzte und in dem Michel und sie sich nur selten auf hielten). Wie Lucie mochte sie den angenehmen Geruch der lackierten Holzkommode. Sie setzte sich vor das Möbelstück, öffnete die Schubfächer und betrachtete, befühlte die persönlichen Gegenstände ihrer Mutter.
Sie hatte den Eindruck, sich an sie zu erinnern, an ihr Gesicht, an ihre hellblonden Haare, an ihre hellgrünen Augen mit dem traurigen Ausdruck – aber sie war sich nicht sicher, sie hatte wohl nur die Foto-Portraits im Kopf.
Jedes Mal las sie sich den Inhalt des Hefts durch. Sie mochte es, den Umschlag zu streicheln, mochte die Farbe des Leders, die Motive, die den Schnitt verzierten und die ihres Erachtens an ein Gewimmel kleiner, nicht identifizierbarer, auf Erden
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