Gesetzlos - Roman
verbannt worden. Im Verlauf der letzten Jahre hatte Clara das Modellstehen immer weniger ertragen. Im Grunde mochte sie nicht gemalt werden. Zwar ließ sie es gelegentlich noch zu, um sich ihrem Onkel nicht immer zu verweigern, aber nur ganz selten.
Michel hatte an der Art und Weise, wie er seine Nichte darstellte, nichts verändert. Seiner Ansicht nach suchte er nichts Bestimmtes, nur die Ähnlichkeit. Er verharrte bei ihrem Gesicht, bei ihrem Blick, am liebsten wäre er es ihm gewesen, wenn die Leinwand eines Tages ein Bewusstsein für Claras Schönheit entwickelt hätte, für jene Schönheit, die er in der Wirklichkeit sah und die für ihn die Schönheit des Lebens selbst war (dieses Lebens, das er in seinen anderen Werken mied, indem er sich auf immer schlichtere Landschaften und Formen beschränkte, die man kaum mehr als Landschaften bezeichnen konnte).
Letzter Akkord der
Danza de la Pastora
.
Clara beendete den Vormittag, indem sie das Klavierstück aus den beiden Trios mit Klavier von Felix Mendelssohn spielte. Am Nachmittag würde sie die Trios gemeinsam mit Vincent Leroy, einem Violinisten, und Mireille Bel, einer verführerischen und talentierten Cellistin, für eine Serie von fünf Konzerten einstudieren, die sie am 23. April im Richelieu-Saal der Bibliothèque Nationale geben würden.
Am Abend sollte sie mit Michel im Restaurant essen. Sie hatten beschlossen, dieses Jahr den Jahrestag ihres Einzugs am 12. März ’87 in die Impasse du Midi zu feiern, so schmerzvoll die Begleitumstände auch gewesen sein mochten.
Ungeduldig wartete sie auf die Nachmittags-Probe.
Dass Vincent (der sich einige Monate zuvor auf den ersten Blick in sie verliebt hatte) ihr den Hof machte, empfand sie weder als störend noch als unangenehm. Er war nicht anziehender als andere Jungs, aber wenigstens widerte er sie nicht an.
Und vor allem war da das unvergleichliche musikalische Vergnügen.
Michel verabschiedete sich von einem Kollegen. Er entfernte sich von der Kunstschule von Garches und bog in die efeubewachsene Passerelle Madeleine ein. Sein Auto stand auf der anderen Seite. Mit seinen siebenundfünfzig Jahren hatte er kein einziges weißes Haar. Seit 1984, dem Zeitpunkt seiner Trennung von Marie Dubost – dem natürlichen Ende ihrer kurzen und eigentümlichen Liebesgeschichte –, trug er ununterbrochen einen Bart. Dieser stets gepflegte Bart, sein hoher Wuchs, sein stattliches Aussehen, sein außergewöhnlicher Blick (der mit dem Alter immer markanter wurde, forschend und freundlich zugleich) ließen ihn deutlich weniger hässlich erscheinen als noch in seiner Jugendzeit.
Er stieg ins Auto, um in Muriels kleine Wohnung nahe Nation zu fahren. Die Wohnung gehörte einer Freundin von Muriel, Bénédicte, die schon seit Längerem nicht mehr in Frankreich lebte, aber eine Zweitwohnung in Paris behalten hatte. Bénédicte gehörte zum »Kreis der fünf«, wie sich die fünf Freundinnen, die ihre Prostitution mit Herz und Verstand betrieben, damals selbst genannt hatten. Nach und nach hatte sich der Kreis jedoch aufgelöst. Jede der fünf Frauen war ihrem Weg gefolgt, einem jeweils recht glücklichen Weg. (Bénédicte war übrigens die ehemalige Freundin von Bertrand. Inzwischen ging er regelmäßig zu einer anderen, Delphine, der Frau eines Schönheitschirurgen, die sein Einzelgänger-Dasein ebenso wenig einschränkte wie zuvor Bénédicte.) Muriel wiederum hatte ohne Liebe einen älteren Politiker geheiratet, der sie auf seinen mondänen Partys vorführte. Sie bekam so viel Geld, wie sie wollte, unternahm Reisen, traf jede Menge Leute, hatte stets Zerstreuung. Ihre früheren Beziehungen hatte sie, bis auf Michel, allesamt aufgegeben. Sie mochte Michel, vielleicht sogar ein bisschen mehr als das, zumal sie sich geschmeichelt fühlte, dass ein so wichtiger Künstler eine solche Zuneigung für sie entwickelt hatte. Sie schätzte seineFreundlichkeit und seine Großzügigkeit – und sie schätzte, wie man hinzufügen muss, seine Qualitäten als stürmischer und unermüdlicher Liebhaber.
Michel hingegen hatte sich an Muriels Gegenwart in seinem Leben einfach gewöhnt, nicht mehr und nicht weniger. Er brauchte sie. Hätte er nicht mehr zu ihr gehen dürfen, sie hätte ihm gefehlt, dessen war er sich schon einmal bewusst geworden, ohne jedoch wirklichen Kummer empfunden zu haben.
Vorsichtshalber zeigten sie sich nur selten in der Öffentlichkeit. (Nur Clara hatte sie eines Tages beobachtet, wie sie gerade aus einem kleinen
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